Rote und grüne Zonen: Forscher legen „No Covid“-Thesenpapier vor

Eine „neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von SARS-CoV-2“ präsentierte eine Gruppe von Forschern, die einen „No Covid“-Ansatz vertreten. Das Papier ist weniger radikal als bisherige #ZeroCovid-Appelle, sieht aber innerstaatliche Zonengrenzen vor.
Von 12. Februar 2021

Sollte die #ZeroCovid-Initiative, die seit Wochen Medien und soziale Netzwerke beschäftigt, den Zweck verfolgen, die Maßstäbe in der Debatte über die Normalisierung von Corona-Lockdowns zu verschieben, hat sie bei der „Welt“ schon mal Erfolg.

Die Zeitung wertet das aktuelle Vorgehen von Kanzlerin Angela Merkel als „deutliches Zeichen“ gegen einen „No Covid“-Ansatz. Wie ein solcher aussehen solle, hat unterdessen eine Gruppe von Wissenschaftlern dargelegt, der unter anderem die Braunschweiger Genetikerin Melanie Brinkmann und ifo-Chef Clemens Fuest angehören.

„Rote Zonen“ bei Inzidenz von mehr als 10

Der Zeitung zufolge sei es ein Bereich, der eine deutliche Distanz zwischen Merkel und dem „No Covid“-Ansatz erkennen lasse: Nach den Ergebnissen der jüngsten Bund-Länder-Runde sollen es die Bundesländer selbst sein, die darüber entscheiden, ob und wann sie welche Schulen wieder öffnen wollen.

Die Anhänger der „No Covid“-Strategie widmen in ihrem Papier über „Handlungsoptionen“, das am gestrigen Mittwoch (10.2.) präsentiert wurde, zwar dem Thema „Schule“ keine weitergehende Analyse. Aus dem Konzept insgesamt lässt sich jedoch ableiten, dass der Unterricht in einem Landkreis nicht im regulären Rahmen stattfinden soll, ehe nicht mindestens eine Inzidenzzahl von 10 erreicht ist.

Aktuelle epidemiologische Studien sprechen, so heißt es in dem Dokument, dafür, dass „eine stabile Lage mit geringen Infektionen und nachhaltigen Öffnungen erst ab einer Inzidenz in der Größenordnung von 10 oder weniger zu erreichen sind“.

„Fahren auf Sicht“ beenden

Die Anhänger der „No Covid“-Strategie wollen einen „langfristigen und verbindlichen Gesamtplan“ – und „aus dem Reaktionsmodus […] proaktives und planbares Handeln“ handeln statt „Fahren auf Sicht“, das die Corona-Politik der Regierung derzeit kennzeichne.

Das würde ihrer Ansicht nach Unsicherheit, psychischen und wirtschaftlichen Druck von den Menschen nehmen, erfordere jedoch „das Verständnis, die Unterstützung und die Teilhabe der gesamten Bevölkerung“.

Um diese Unterstützung zu erreichen, wolle man eine „deutschlandweite und lokal getragene Kommunikations- und Motivationskampagne“ anstoßen. Ihre Aufgabe soll es sein, die neuen Zielsetzungen zu vermitteln und „Bottom-up-Unterstützungsaktivitäten“ zu ermöglichen. Gleichzeitig sollen „die Erfolge […] täglich kommuniziert“ werden.

Zonengrenzen mit Korridoren

Nach dem Vorbild von Australien und Neuseeland – Länder mit strikten Einreisebestimmungen und einer deutlich geringeren Bevölkerungsdichte als Deutschland – soll dem „No Covid“-Konzept zufolge durch umfassende Kontaktbeschränkungen ein Rückgang der Neuinfektionen mit dem Coronavirus erreicht werden. Zudem sollen Landkreise unterschiedlichen Zonen zugeordnet werden.

In roten Zonen sollen weitreichende und strikt überwachte Lockdown-Regeln gelten. Sinkt die Inzidenz unter 10, sollen erste Öffnungen möglich werden, ohne das Ziel von null Infektionen zu gefährden. Erst wenn zwei Wochen lang keine „Infektionen unbekannten Ursprungs“ stattgefunden haben, soll es eine „weitgehende und dauerhafte Öffnung“ geben.

Es soll jedoch weiterhin zu Monitoring und Früherkennung von Corona-Infektionen kommen. Vor allem aber bliebe die Mobilität gegenüber anderen Zonen eingeschränkt, die nicht ebenfalls im grünen Bereich angesiedelt seien. Zudem sollen auf Länderebene Pufferzonen eingerichtet werden, um zumindest „sichere Reisen“ zwischen einzelnen Gebieten zu ermöglichen.

Offensives Testen und Kontaktverfolgung gefordert

Während der „No Covid“-Ansatz darauf setzt, Europa als einen einheitlichen „epidemiologischen Raum“ zu begreifen und deshalb eine Schließung von Binnen- oder Außengrenzen ablehnt, würde das Konzept „smarter Mobilitätsbeschränkungen“ innerstaatliche Zonengrenzen schaffen.

Die Steuerung der Maßnahmen solle dezentral erfolgen und auf dem „Like-Minded-Prinzip“ beruhen. Regionen sollen sich entweder in der eigenen Nachbarschaft oder über Grenzen hinweg auf eine gemeinsame Implementierung des Ansatzes verständigen.

Eine Schlüsselrolle soll auch offensiven Test- und Tracing-Maßnahmen zukommen. Bei Verdachtsmomenten solle eine sofortige Isolation erfolgen, deren existenzielle Folgen für die Betroffenen durch zielgerichtete Maßnahmen minimiert werden sollen.

Fuest drückt Thesenpapier den Stempel auf

Einige Punkte in dem neuen Konzeptpapier scheinen bisheriger Kritik an der #ZeroCovid-Initiative Rechnung getragen zu haben, die sich selbst vielerorts den Ruf eingehandelt hatte, die Corona-Krise für ideologische Gesellschaftsexperimente instrumentalisieren zu wollen.

Von einer vollständigen Stilllegung der Wirtschaft ist in dem neuen Thesenpapier nicht die Rede. Offenbar auf Betreiben von ifo-Chef Fuest sollen „Sektoren mit relativ zur Wertschöpfung niedriger Ansteckungsgefahr, z. B. hochautomatisierte Fabriken, und Sektoren mit sehr hoher Wertschöpfung pro Beschäftigtem (insbesondere das produzierende Gewerbe) weiter produzieren dürfen“.

Zudem sollen Wertschöpfungsketten aufrechterhalten werden und Betriebe des produzierenden Gewerbes geöffnet bleiben, solange es nicht zu SARS-CoV2-Infektionen am Arbeitsplatz komme – „selbst wenn sie nicht in einer grünen Zone sind und das lokale Infektionsgeschehen höher ist“.

„No Covid“ setzt auf Home-Office und Individualverkehr

Eine bedeutende Rolle bei der Umsetzung der Strategie sollen Unternehmen spielen, indem sie ihre Home-Office-Kapazitäten ausbauen. Das Papier verweist auf empirische Untersuchungen, die zeigten, dass „etwa 56 Prozent der Tätigkeiten in Deutschland im Home-Office erledigt werden können“.

Während sich Kosten einer solchen Soll-Regelung in Grenzen hielten, könne „Home-Office signifikant zur Reduktion des Infektionsgeschehens beitragen“.

Das „No Covid“-Konzept der Forschergruppe regt auch eine 180-Grad-Wende im Bereich der Mobilitätspolitik an. In deutlicher Abkehr von der Stoßrichtung der Verkehrspolitik der vergangenen Jahre will man wieder „möglichst auf Individualverkehr“ setzen, insbesondere bei der Fahrt zum Arbeitsplatz. Auf diese Weise könne bewirkt werden, dass „die Kontakte im öffentlichen Personennahverkehr auf das minimal nötige Maß reduziert werden“.



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