Regierungsbildung in Österreich: Kurz kritisiert Bundespräsident – „sehr undemokratisch“
In Österreich haben sich die Spitzen von Österreichischer Volkspartei (ÖVP) und Sozialdemokraten (SPÖ) am Freitag, 25.10., zu ersten Sondierungsgesprächen mit dem Ziel einer Regierungsbildung getroffen. Am Dienstag zuvor hatte Bundespräsident Alexander van der Bellen damit in Abweichung bisheriger Gepflogenheiten den Chef der zweitstärksten Partei bei der Nationalratswahl, Bundeskanzler Karl Nehammer, beauftragt.
Die beiden früheren Großparteien, die nach 1945 über Jahrzehnte hinweg die österreichische Politik dominiert hatten, verfügen gemeinsam lediglich über eine hauchdünne Mehrheit von einem Mandat. Am 29.9. war die rechte FPÖ mit 28,8 Prozent erstmals in der Geschichte als stimmenstärkste Kraft aus der Nationalratswahl hervorgegangen.
Angebliche „Geheim-Liste“ für Österreich: Mehrere Minister sollen im Amt bleiben
Aufgrund der dünnen Mehrheit gilt es als wahrscheinlich, dass ÖVP und SPÖ eine dritte Partei an der Regierung beteiligen werden. Eine solche Koalition wäre ein Novum in der Alpenrepublik. Nach dem Wochenende des Nationalfeiertages am 26.10. werden auch erste Gespräche mit den liberalen NEOS und den Grünen geführt. Eine neuerliche Einbeziehung der Grünen in die Regierung gilt nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre jedoch als unwahrscheinlich. Termine für die geplanten Gespräche stehen dem ORF zufolge noch nicht fest.
Bereits im Vorfeld der ersten Sondierungsrunde hat ein Polit-Blogger gegenüber dem „exxpress“ eine vermeintliche „Geheim-Liste“ präsentiert. Karl Nehammer als Kanzler und SPÖ-Chef Andreas Babler als Vizekanzler wären dabei keine Überraschungen.
Darüber hinaus werde es mehrere Kontinuitäten in den Ministerien geben. So sollen die ÖVP-Politiker Gerhard Karner (Innenministerium), Alexander Schallenberg (Außenministerium) und Klaudia Tanner (Verteidigung) in ihren Ämtern verbleiben. Die Konservativen sollen zudem das Wirtschaftsministerium behalten und mit einer noch nicht genannten Frau besetzen. Als Familienministerin ist die derzeitige Jugendstaatssekretärin Claudia Plakolm im Gespräch.
Sozialdemokratie soll erstmals nach 24 Jahren wieder den Finanzminister stellen
Die Sozialdemokraten sollen künftig das Finanzministerium besetzen. Dem Geheimpapier zufolge soll der Wiener Stadtrat Peter Hanke das Amt übernehmen. Die SPÖ hatte das Finanzressort ohne Unterbrechung in der Zeit zwischen 1970 und 2000 inne, davon 13 Jahre in einer Alleinregierung, drei Jahre im Bündnis mit der FPÖ (1983 bis 1987) und weitere 13 Jahre in einer Großen Koalition mit der ÖVP.
Andreas Babler, der jüngst seinen Rücktritt als Bürgermeister von Traiskirchen angekündigt hatte, soll das Sozialministerium leiten. Als weitere SPÖ-Minister sind Julia Herr (Umwelt), Philip Kucher (Verkehr) und Eva-Maria Holzleitner (Frauen) im Gespräch. Auch das Gesundheitsministerium könnte der „Geheim-Liste“ von den Sozialdemokraten gestellt werden. Namen werden dabei noch keine genannt.
Die liberale Partei NEOS, die als wahrscheinlicher weiterer Koalitionspartner zur Stabilisierung der Regierungsmehrheit gilt, soll zwei Minister stellen. Parteichefin Beate Meinl-Reisinger würde demnach das Bildungsministerium übernehmen – diese ist in Österreich Bundessache. Zudem soll für den Salzburger Gastronomen Josef Schellhorn ein eigenes Tourismusministerium entstehen.
Noch ungewiss ist, welchen Einfluss die Sozialpartnerschaft auf die Gesetzgebung haben wird. Die Kammern und der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) sind regelmäßig politisch entweder der ÖVP oder der SPÖ zugeordnet. Traditionell galten sie als Schattengesetzgeber, wenn diese Parteien allein oder zusammen regierten. Die NEOS gelten hingegen als Kritiker der Sozialpartnerschaft.
Kein mehrheitlicher Wunsch in Österreich nach FPÖ-ÖVP-Bündnis unter Kickl
Der frühere Bundeskanzler Sebastian Kurz hat unterdessen Kritik geübt an der Entscheidung des Bundespräsidenten, den Chef der stärksten Partei bei der Vergabe des Regierungsbildungsauftrags zu übergehen. Er bezeichnete das Vorgehen gegenüber der Gratiszeitung „heute“ als „sehr undemokratisch“. Es gehe „gegen jeden Konsens, den es in der Zweiten Republik bisher in diesem Bereich immer gegeben hat“. Kurz habe „das Gefühl, das zeigt auch ein Stück weit mangelnden Respekt für politisch Andersdenkende“.
Alexander van der Bellen sieht sich demgegenüber als mit zuletzt 56,2 Prozent direkt wiedergewählter Bundespräsident in einer stärkeren Legitimation als Kickl, dessen FPÖ auf 28,8 Prozent gekommen war. Die Bevölkerung ist bezüglich der Koalitionspräferenzen gespalten. Einer vor zwei Wochen veröffentlichten Gallup-Umfrage zufolge findet ein Dreierbündnis aus ÖVP, SPÖ und NEOS mit 26 Prozent eine knappe relative Mehrheit.
Eine Koalition aus FPÖ und ÖVP würden nur 24 Prozent befürworten. Dies liegt nicht zuletzt auch an einem wesentlich geringeren wechselseitigen Vertrauen zwischen beiden Parteien im Vergleich zu früheren Jahren. In der FPÖ-Wählerschaft gibt es nicht zuletzt seit der Corona-Zeit eine starke Abneigung gegenüber Kanzler Nehammer. Unter konservativen Wählern ist FPÖ-Chef Kickl wiederum deutlich unbeliebter als es in früheren Jahren Jörg Haider und Heinz-Christian Strache waren. Für ein Dreierbündnis aus ÖVP, SPÖ und Grünen sprachen sich lediglich 14, für Blau-Türkis ohne Kickl sogar nur 12 Prozent aus.
Erstmals bekleidet FPÖ-Politiker zweithöchstes Amt des Landes
Zu einer Regierungsbeteiligung der FPÖ wird es also nicht kommen. Einen nennenswerten Erfolg konnte die Partei dennoch verbuchen. Mit 100 Stimmen von 183 Abgeordneten wurde deren früherer Volksanwalt und Präsidentschaftskandidat Walter Rosenkranz zum Nationalratspräsidenten gewählt. Es ist damit das erste Mal in der Geschichte des Landes, dass die FPÖ das nominell zweithöchste Amt des Staates besetzt.
Neben den FPÖ-Abgeordneten selbst stimmten offenbar auch zahlreiche Parlamentarier aus ÖVP und SPÖ für Rosenkranz. Auf den ebenfalls der FPÖ angehörenden bisherigen dritten Nationalratspräsidenten Norbert Hofer entfielen 26 Stimmen. Er hatte zuvor bereits betont, für die Funktion nicht mehr zur Verfügung zu stehen, da er im Januar 2025 als Spitzenkandidat seiner Partei zur Landtagswahl im Burgenland antrete.
Der Nationalratspräsident hat neben der Leitungsgewalt von Parlamentssitzungen auch Befugnisse mit Blick auf die Geschäftsordnung. Er wechselt sich mit dem Bundesratspräsidenten beim Vorsitz der Bundesversammlung ab. Im Fall einer Verhinderung oder eines Ablebens des Bundespräsidenten üben die Mitglieder des Nationalratspräsidiums dessen Geschäfte aus.
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