Putin im FT-Interview: „Merkel hat in der Migrationsfrage Kardinalfehler begangen“

In einem Interview mit der „Financial Times“ am Rande des G20-Gipfels erklärt der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, der Liberalismus habe sich überlebt. Er sei selbst ideologisch geworden und habe sich gegen die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung gewandt.
Von 28. Juni 2019

In einem Exklusivinterview mit der Financial Times (FT) hat Russlands Präsident Wladimir Putin deutliche Kritik am liberalen Establishment im Allgemeinen und Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel im Besonderen geübt.

Die „liberale Idee“, so der Kremlchef, habe „sich selbst überlebt“, als die liberalen Demokratien des Westens sich über die Bedenken einer Mehrheit der Bevölkerung gegen Masseneinwanderung, offene Grenzen und Multikulturalismus hinweggesetzt hätten.

Die Entscheidung der deutschen Bundeskanzlerin, im Sommer 2015 grünes Licht für die Aufnahme von mehr als einer Million Migranten, hauptsächlich Flüchtlinge aus den kriegsgeschüttelten Ländern Syrien und Irak, in Deutschland zu geben, sei ein „Kardinalfehler“ gewesen.

Demgegenüber lobte der russische Präsident die Bemühungen des US-Präsidenten Donald Trump, die Grenze zwischen Mexiko und den USA undurchlässiger zu machen.

Die liberale Idee gehe davon aus, dass in diesem Zusammenhang überhaupt kein Handlungsbedarf bestehe. „Die Migranten können töten, plündern und vergewaltigen und gehen straffrei aus, weil man ja ihre Rechte als Migranten schützen müsse. Aber jedes Verbrechen muss bestraft werden“, erklärt der russische Präsident in diesem Zusammenhang.

Wider den Kasernenhof-Liberalismus

Liberale könnten „nicht einfach jedem alles diktieren, wie sie es über die letzten Jahrzehnte hinweg versucht haben“, fügt Putin hinzu. Dies gelte insbesondere auch im Zusammenhang mit gesellschaftspolitischen Themen, beispielsweise die sogenannte „sexuelle Vielfalt“. Dazu sagte Putin:

Ich will hier niemanden beleidigen, denn man hat uns oft genug angebliche Homophobie vorgeworfen. Wir haben kein Problem mit LGBT-Personen. Mein Gott, lasst sie doch nach ihrer Fasson selig werden. Aber einiges erscheint uns mittlerweile als exzessiv. Jetzt heißt es, Kinder könnten fünf oder sechs Geschlechterrollen haben.“

Man habe in Russland kein Problem damit, dass jeder auf seine Weise glücklich würde, fügte der russische Präsident hinzu.

Aber wir dürfen nicht zulassen, dass das die Kultur, die Traditionen und die traditionellen Familienwerte von Millionen Menschen, die die Kernbevölkerung stellen, überschattet.“

Putins kritische Haltung zu sexualrevolutionären Gesellschaftsexperimenten und seine demonstrative Nähe zur Orthodoxen Kirche haben Russland und seinen Präsidenten auch für viele Konservative im Westen seit Beginn der 2010er Jahre zunehmend zu einem positiven Referenzpunkt gemacht. Demgegenüber stellen liberale westliche Medien Putin und die russische Regierung als Förderer rechtskonservativer oder rechtspopulistischer Bestrebungen in Westeuropa dar.

Die meisten Rechtsparteien in Europa treten auch tatsächlich für ein besseres Verhältnis zu Russland und ein Ende der 2014 verhängten EU-Sanktionen ein, und in manchen Fällen gab es auch finanzielle Unterstützung für diese, etwa durch Kredite russischer Banken für den damaligen französischen Front National. Auch obskure Social-Media-Kampagnen mit Ursprung in Russland haben sich teils an ein politisch rechtes, teils an ein linkes Publikum gewandt. Berichte liberaler Medien und demokratischer Politiker, Russland habe Donald Trump geholfen, Präsident zu werden, oder sich gar mit diesem zur Wahlbeeinflussung verabredet, erwiesen sich hingegen als erfunden.

Außenpolitik des Kremls alles andere als konservativ

Tatsächlich war der demokratische Linksaußenkandidat Bernie Sanders der Wunschkandidat der Kremlbürokratie, der russischen Medien und der russischen Geheimdienste. Von ihm versprach man sich nicht nur eine russlandfreundlichere Politik, sondern auch eine Umgestaltung des US-amerikanischen Wirtschaftssystem weg vom „Kapitalismus“, der im Kreml immer noch als Feindbild gilt. Von Donald Trump hätte sich der Kreml dies nicht erwarten können.

Entgegen den Darstellungen westlicher Medien und führender EU-Politiker, wonach Russland durch Propaganda im Sinne der politischen Rechten versuche, die „liberalen Demokratien“ zu unterminieren, fallen russische Auslandsmedien, die sich an ein internationales Publikum richten, vielmehr durch eine extrem linke Schlagseite auf. Die orthodox-marxistische Ausrichtung der Redaktion hat beispielsweise bei RT Deutsch zu mehreren Abgängen zum Teil langjähriger Mitarbeiter geführt – zuletzt zu jenem des bereits seit dem Gründungsjahr 2014 dort beschäftigten Nahostredakteurs Ali Özkök.

Auch Wladimir Putin selbst steht außenpolitisch überwiegend für eine Kontinuität diplomatischer Beziehungen aus der Sowjetära und nicht für eine Stärkung konservativer Kräfte. Die Politik Moskaus ist ungebrochen antiamerikanisch ausgerichtet, sie stärkt Kräften wie der Volksrepublik China, dem Iran, den Palästinenserorganisationen oder dem sozialistischen Regime in Venezuela den Rücken, während konservative Regierungen wie in Israel, Polen oder Brasilien insbesondere in staatlichen russischen Medien dämonisiert werden. 

Putin will Beziehungen zu Großbritannien reparieren

Auch im FT-Interview wirft Putin den USA vor, „Unilateralismus“ zu pflegen und klagt über fehlende Verbindlichkeit und Durchsetzbarkeit von der UNO geschaffener Rechtsnormen. Auch bezüglich der „explosiven“ Situation in der Golfregion sieht der Kreml nicht die Machtpolitik des Iran, sondern die USA als hauptverantwortlich.

Immerhin zeigt Putin sich zuversichtlich hinsichtlich einer möglichen Verbesserung der Beziehungen zu Großbritannien. Diese waren an einem Tiefpunkt angelangt, nachdem im März 2018 der frühere Doppelagent Sergej Skripal und dessen Tochter im britischen Salisbury zum Ziel eines mutmaßlichen Mordanschlages mit Nervengift geworden waren. Als Tatverdächtige will die britische Investigationsplattform Bellingcat zusammen mit der oppositionellen russischen Internet-Plattform „The Insider“ zwei Angehörige des russischen Geheimdienstes GRU identifiziert haben.

Putin hingegen hält, wie er gegenüber der FT erneut betont, eine russische Verwicklung in den Anschlag für nicht bewiesen. Er setzt jedoch Hoffnung in sein bevorstehendes Treffen mit der scheidenden britischen Premierministerin Theresa May in Osaka. „Ich denke, sowohl Russland als auch das Vereinigte Königreich haben ein Interesse an einer vollständigen Wiederherstellung unserer Beziehungen, zumindest hoffe ich, dass uns ein paar vorbereitende Schritte dazu gelingen werden.“

Seine Distanzierung von dem Mordanschlag auf den in Russland bereits abgeurteilten und im Zuge eines Agentenaustauschs nach Großbritannien ausgewiesenen Sergej Skripal bleibt jedoch oberflächlich. „Verrat ist das schlimmstmögliche Verbrechen und Verräter müssen bestraft werden“, betonte Putin. „Ich sage nicht, dass das so vonstattengehen soll wie in Salisbury… aber Verräter müssen bestraft werden.“



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