Peitschenhiebe im Namen des Koran
Droht nach der Rückkehr der Taliban an die Macht eine neue islamistische Schreckensherrschaft in Afghanistan? Insbesondere Frauen fürchten eine Wiedereinführung der strengen Auslegung des islamischen Rechts, der Scharia, wie sie während der Taliban-Herrschaft in den 1990er Jahren praktiziert worden war.
Der Begriff Scharia beschreibt ein religiöses Rechtssystem, das aus dem Koran und den sogenannten Hadithen des Propheten Mohammed abgeleitet wird. Die Anwendung der Scharia ist seit langem Gegenstand von Auseinandersetzungen zwischen konservativen und liberalen Muslimen. Umstritten sind vor allem die oft grausamen sogenannten Hadd-Strafen bei Diebstahl, Vergewaltigung und Mord oder „Delikten“ wie Homosexualität und Ehebruch.
Die Justizsysteme der meisten islamisch geprägten Staaten beziehen sich zumindest in Teilen auf die Scharia. In der Praxis bestehen aber Unterschiede. Ein Überblick:
Afghanistan
Von 1996 bis 2001 folgten die herrschenden Taliban einer extrem rigiden Rechtsauslegung. Frauen durften keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, Mädchenschulen wurden geschlossen. Auch Hadd-Strafen wurden regelmäßig vollstreckt: Dieben wurde die Hand abgehackt. Des Ehebruchs bezichtigte Frauen wurden zu Tode gesteinigt. Die Burka war für Frauen Pflicht.
Seit ihrer Machtübernahme sind die Taliban bemüht, ein moderateres Bild abzugeben. So kündigten sie an, dass Frauen weiterhin arbeiten könnten – im Einklang mit der Scharia. Wie genau diese aussehen soll, ist noch unklar.
Saudi-Arabien
In Saudi-Arabien bildet die Scharia die Grundlage allen Rechts. Noch vor kurzem waren öffentlich vollstreckte Hadd-Strafen in dem Golfstaat verbreitet. Theoretisch kann auch etwa Homosexualität mit dem Tod bestraft werden. Im Regelfall wird hier auf Hinrichtungen verzichtet, Homosexuellen drohen dafür Auspeitschungen und lange Haftstrafen. Die Gesetzgebung in Saudi-Arabian erlaubt außerdem Vergeltungsaktionen nach dem Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“.
Iran
Nirgendwo – außer in China – werden so viele Todesurteile vollstreckt wie im Iran. Auch in der Islamischen Republik gründet sich das Rechtssystem auf die Scharia, allerdings bestehen in der Rechtspraxis wesentliche Unterschiede. So sind Haftstrafen das gängigste Mittel der Bestrafung. Laut Amnesty International sind aber auch brutale Scharia-Strafen wie „Auspeitschungen, Amputationen und erzwungene Erblindungen“ gängig.
Pakistan
Im Zuge der Islamisierung des pakistanischen Strafrechts unter der Militärherrschaft von Muhammad Zia-ul-Haq 1979 wurden in dem Land die sogenannten Hudood Ordinances eingeführt. Seither existieren in Pakistan neben dem unter der britischen Kolonialherrschaft eingeführten Strafkodex auch sogenannte Scharia-Gerichte. In der Praxis wird die Scharia aber nur selten angewandt.
Im Jahr 2006 verabschiedete das Parlament ein Gesetz zum Schutz von Frauen, das Tatbestände wie Vergewaltigung und Ehebruch aus dem religiösen Rechtssystem entfernte. Inzwischen können vor Scharia-Gerichten ergangene Urteile zudem auch vor weltlichen Gerichten angefochten werden.
Indonesien
Nur eine Region des größten islamisch geprägten Land der Welt verfügt über eine Scharia-Auslegung. In der Provinz Aceh sind öffentliche Auspeitschungen etwa als Strafe für Glücksspiel, gleichgeschlechtlichen Sex, Ehebruch und Alkoholkonsum üblich.
Sudan
Im Sudan gilt die Scharia seit 1983. Steinigungen sind in den Gesetzbüchern vorgesehen, werden aber seit Jahrzehnten nicht mehr vollstreckt. Aktivisten zufolge werden in dem ostafrikanischen Land aber jährlich hunderte Fauen wegen „unmoralischen Verhaltens“ ausgepeitscht.
Nigeria
Zwölf der 36 nigerianischen Bundesstaaten wenden die Scharia in Strafprozessen an. Gerichte können unter anderem Amputationen anordnen. Vollstreckt werden solche Urteile aber in der Regel nicht.
Katar
Auspeitschungen sind nach katarischem Recht unter anderem dann vorgesehen, wenn Muslime Alkohol trinken oder gesetzeswidrigen Geschlechtsverkehr haben. Zur Anwendung kommt die Strafe aber selten. Trotzdem stehen in der Theorie 100 Peitschenhiebe auf Ehebruch.
Laut dem Gesetz kann Ehebruch sogar mit dem Tod bestraft werden – wenn eine muslimische Frau und ein nicht-muslimischer Mann daran beteiligt sind. In der Praxis wird die Todesstrafe in Katar aber nur in besonders schweren Mordfällen verhängt.
Syrien und Irak unter der IS-Herrschaft
Bis zum militärischen Sieg über das sogenannte Kalifat der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) 2019 herrschte in Teilen Syriens und dem Irak eine äußerst brutale Auslegung der Scharia. Öffentliche Enthauptungen, Steinigungen und Amputationen waren an der Tagesordnung. Männer, die für schwul gehalten wurden, wurden von den Dächern hoher Gebäude gestürzt. Eine ähnliche Form der Scharia wendet die mit dem Terrornetzwerk Al Kaida verbündete Schabaab-Miliz in Somalia an. (afp)
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