Parlamentswahl in Frankreich: Vier Szenarien und ein möglicher Rücktritt von Macron

Die vorgezogene Neuwahl zur Nationalversammlung in Frankreich könnte sich als größte politische Zäsur seit der Gründung der aktuellen Republik erweisen. Was ist denkbar?
Titelbild
Die französische Nationalversammlung in Paris.Foto: Dudbrain / iStock
Epoch Times6. Juli 2024

Bei der Wahl am Sonntag, 7. Juli, könnte erstmals der Rassemblement National, der bei jungen Menschen sehr beliebt ist, auf nationaler Ebene Regierungsverantwortung erlangen.

Ebenso denkbar ist auch, dass nach der zweiten Runde am Sonntag kein Lager eine regierungsfähige Mehrheit erhält und das Land in eine politische Dauerkrise schlingert. Folgende Szenarien gibt es.

1) Wahlsieg des RN um Jordan Bardella

Die Partei Rassemblement National (RN) hat zusammen mit ihren Verbündeten in der ersten Runde 33,1 Prozent der Stimmen erreicht. Zudem konnten sich 39 Kandidaten bereits in der ersten Runde durchsetzen.

Falls der RN in der Stichwahl auf mindestens 270 Abgeordnete kommt, strebt die Partei die Regierung an. Die absolute Mehrheit liegt bei 289 von 577 Sitzen. Parteichef Jordan Bardella erhebt in diesem Fall Anspruch auf das Amt des Premierministers. Präsident Emmanuel Macron könnte sich politisch gezwungen sehen, ihn zu ernennen.

Damit würde Frankreich zum vierten Mal eine Kohabitation erleben, in der Präsident und Premierminister aus unterschiedlichen politischen Lagern kommen. Im Wahlkampf stellte Bardella bereits die Machtbefugnisse des Präsidenten in der Außen- und Sicherheitspolitik infrage.

Tatsächlich sind die Zuständigkeiten von Präsident und Premierminister in der französischen Verfassung nicht klar definiert. Konkret beabsichtigt Bardella, etwa bei der Auswahl des französischen EU-Kommissars, mitzureden. Er will außerdem die Entsendung französischer Militärausbilder in die Ukraine und die Lieferung von Langstreckenwaffen dorthin verhindern.

Offen ist, wie Frankreich auf EU-Ebene auftreten würde. Traditionell ist der Sitz im Europäischen Rat dem französischen Präsidenten vorbehalten.

Bei früheren Kohabitationen hatten der französische Präsident und Premierminister mehrfach gemeinsam an EU-Gipfeln teilgenommen. Wenn an den europäischen Ministertreffen euroskeptische RN-Minister teilnehmen sollten, dürfte dies den Einfluss Frankreichs in der EU erheblich schmälern.

Die Wahrscheinlichkeit einer rechten Regierungsmehrheit scheint aktuellen Umfragen zufolge nicht in erreichbarer Nähe. Eine am 3. Juli veröffentlichte Umfrage von Toluna Harris Interactive ergab, dass die Zahl der Sitze für den RN und verbündeter Kandidaten zwischen 190 und 220 liegt – weit entfernt von den 289, die für die absolute Mehrheit erforderlich sind. Eine Umfrage vom Freitag, den 5. Juli vom Institut Ipsos-Talan für „Radio France“, „France Télévisions“ und „Le Monde“ ermittelte nur 175 bis 205 Sitze für ein RN-Bündnis.

2) Wahlsieg der links-grünen Neuen Volksfront

Das Bündnis aus Linkspopulisten, Sozialisten, Kommunisten und Grünen (Nouveau Front populaire, NFP) ist in der ersten Runde auf 28 Prozent der Stimmen gekommen. 32 Kandidaten wurden direkt gewählt. Etwa 130 Kandidaten der Neuen Volksfront haben sich zu einem taktischen Rückzug entschlossen, um die Chancen eines RN-Kandidaten in ihrem Wahlkreis zu schmälern.

Damit sind allerdings auch die Chancen auf eine eigene Mehrheit weiter gesunken. Mit einem Wahlsieg der Neuen Volksfront wird eher nicht gerechnet.

Rodrigo Ballester, ehemaliger Beamter des Europakollegs und Direktor des Zentrums für Europäische Studien des Mathias Corvinus Collegiums (MCC) in Budapest, sieht die Neue Volksfront als schwieriges Bündnis an. In diese Koalition dominiere die linke La France Insoumise (LFI), die die Mehrheit der Wahlkreise halte. Dieses Bündnis sei von „einer gefährlichen Ideologie infiltriert: dem Islamismus und dem Linksradikalismus“. Das sei eine echte Gefahr für Frankreich.

Eine Zusammenarbeit mit der Partei La France Insoumise hat Macron ausgeschlossen.

3) Unklare Mehrheitsverhältnisse

Wenn weder der RN noch die links-grüne Neue Volksfront eine Mehrheit erreichen, könnte Macron versuchen, noch eine Weile an der amtierenden Regierung festzuhalten – etwa bis nach dem NATO-Gipfel oder bis nach den Olympischen Spielen in Paris.

Der Rücktritt der Regierung wird nach der Neuwahl zwar erwartet, ist aber nicht vorgeschrieben. Mehrere Minister haben bereits erkennen lassen, dass sie ihr Amt möglichst schnell abgeben möchten.

4) Technokratenregierung

Macron könnte auch eine Regierungsmannschaft aus parteilosen Technokraten ernennen, was für Frankreich politisches Neuland wäre.

Es wäre nicht das erste Mal, dass er einen weitgehend unbekannten Politiker zum Premierminister macht: Jean Castex etwa war vor seiner Zeit als Premierminister Bürgermeister eines Pyrenäen-Ortes.

Macron könnte dann versuchen, mit wechselnden Partnern Mehrheiten für einzelne Vorhaben zu erreichen. Er setzt dabei auf den linken Rand der Republikaner sowie auf den rechten Rand der Neuen Volksfront. Letztere dürfte auseinanderbrechen, falls Macron es schaffen sollte, sich eine gewisse Unterstützung der Sozialisten und Grünen zu sichern.

Von einer Koalition nach deutschem Vorbild ist Frankreich weiterhin weit entfernt. Derzeit hält es kaum jemand für möglich, dass sich eine Mehrheit auf so etwas wie einen Koalitionsvertrag verständigen könnte.

Rücktritt des Präsidenten

Macron ist bis 2027 gewählt und betont, dass er nicht an einen Rücktritt denkt. Die RN-Politikerin Marine Le Pen, die ihn im Amt beerben will, bringt die Möglichkeit seines Rücktritts stetig ins Gespräch. Macron, der selbst nicht wieder antreten kann, hat es bislang vermieden, einen möglichen Nachfolger aufzubauen.

Mehrere ehemalige Verbündete nutzten den kurzen Parlamentswahlkampf nun für eigene Zwecke: Wirtschaftsminister Bruno Le Maire, Innenminister Gérald Darmanin und Ex-Premierminister Édouard Philippe gingen erkennbar auf Distanz zu Macron.

Vermutlich wäre niemand so gut vorbereitet auf eine Präsidentenwahl wie Le Pen, die bereits drei Präsidentschaftswahlkämpfe hinter sich hat. Sollte Macron ihr eines Tages die Amtsgeschäfte übertragen müssen, wäre seine Präsidentschaft gründlich gescheitert: Schließlich war er mit dem Ziel angetreten, die Rechten in Frankreich von der Macht fernzuhalten. (afp/red)



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion