Österreich vor der Wahl: ÖVP will mit „Leitkultur“ punkten
Am kommenden Donnerstag, 1. August, wird Österreichs Integrationsministerin Susanne Raab die „österreichische Leitkultur“ definieren. Bereits im März hatte die ÖVP-Politikerin dies angekündigt, nachdem ihr Bundeskanzler und Parteifreund Karl Nehammer sie dazu beauftragt hatte. Dieser kündigte im Rahmen seines „Österreich-Plans“ bis 2030 an, eine solche „Leitkultur“ einzufordern. Diese solle sich „auch als nationales Kulturgut gesetzlich widerspiegeln“.
ÖVP zog Social-Media-Kampagne nach Protesten zurück
Die Ministerin hatte daraufhin Fachleute wie Migrationsforscher, Arbeitsrechtsexperten und Soziologen hinzugezogen, um Leitlinien zu entwerfen. Schon frühzeitig begleitete die ÖVP das Vorhaben mit einer Social-Media-Kampagne, die Bilder von Blasmusikkapellen und Maibaumfeiern mit markigen Sprüchen wie „Tradition statt Multikulti“ verband.
Erst nach anhaltender Kritik an den „exkludierenden“ Botschaften zog die Partei die Sujets wieder zurück. Auf einer Pressekonferenz räumte Generalsekretär Christian Stocker ein, der Zugang sei „nicht optimal“ gewesen. Zu diesem Zeitpunkt war aber bereits der von Raab geladene Soziologe Kenan Güngör, der den Spruch als „realitätsfremd“ bezeichnete, nach nur einer Sitzung aus dem Expertenrat ausgestiegen.
Eine mildere Bilanz über das Vorhaben zog unterdessen die Integrationsexpertin Emina Saric. Sie betonte gegenüber dem „Standard“, die Gremien seien breit aufgestellt gewesen und sie habe ihre Erfahrungen konstruktiv in Gremien und Arbeitsgruppen einbringen können. Den Begriff „Leitkultur“ hält sie dennoch für „nicht ideal“. Ausdrücke wie „Grundkonsens“ oder „Leitlinien“ hätte sie als hilfreicher erachtet.
SPÖ wirft Konservativen lebensfremdes Vorgehen in der Integrationspolitik vor
Am Donnerstag will Raab nun die Ergebnisse des Konsultationsprozesses präsentieren. Im Mittelpunkt sollen dabei „Maßnahmen der Wertevermittlung im Integrationsbereich“ und „österreichische Grundwerte und Grundprinzipien“ stehen.
Die SPÖ wirft den Konservativen jetzt schon Doppelzüngigkeit vor. Einerseits wolle die ÖVP sich zum Vorreiter einer gelungenen Integrationspolitik über die „Leitkultur“ profilieren, andererseits hungere sie konkret auf Integration ausgerichtete Bildungsprojekte aus. So verweist der sozialdemokratische Integrationssprecher Christian Oxonitsch auf einen Sondertopf des Bildungsministeriums für die Einstellung von 391 zusätzlichen Lehrkräften. Diese sollen den Familiennachzug vieler Tausend Kinder im Schulalter flankieren.
Allerdings sei die Verteilung der Planstellen in „denkbar absurder“ Weise vonstattengegangen. Während 70 bis 80 Prozent der über den Familiennachzug ins Land gekommenen Kinder in Wien zur Schule gehen würden, seien für die Bundeshauptstadt nur 21 Prozent der Planstellen vorgesehen. Gegenüber dem „Standard“ meinte Oxonitsch dazu:
„Das ist, als würde man die Mittel für U-Bahnen auch auf ganz Österreich verteilen, obwohl es U-Bahnen nur in Wien gibt.“
Kritiker nennen Vorhaben der ÖVP „brandgefährlich und übergriffig“
Sozial- und Kulturanthropologe Johannes Köpl sieht bereits das Anliegen einer „Leitkultur“ als problematisch. Im „Standard“ erläutert er, dass Kultur nicht nur heterogen sei, sondern auch einem Wandel unterliege. Was überwiegend als „richtig“ oder „normal“ angesehen werde, sei heute anders als etwa in den 1980er-Jahren.
Eine „Leitkultur“ beschreibe eine Kultur, wie sie sein solle, wobei jede Subkultur ihre eigenen Vorstellungen und ethnozentrischen Voreingenommenheiten aufweise. Eine verbindliche Definition werde so zur Machtfrage – bei der jene beschreibende Gruppe, die über die faktische Möglichkeit dazu verfüge, ihre eigenen Werte und Muster zur Norm für alle erkläre.
Auch wenn ein Bedarf nach Definition einer „Leitkultur“ bestünde, wäre eine politische Partei dafür die falsche Adresse, so Köpl:
„Eine politische Gruppierung wird nie in der Lage sein, die Werte und Annahmen der anderen Subkulturen wertfrei und nicht durch die Brille der eigenen Werte zu sehen. Auch die Klimabewegung, eine deutschnationale Burschenschaft oder die Sozialistische Jugend sollten keine österreichische ‚Leitkultur‘ definieren. Das könnten sie gar nicht. Genauso wenig wie die ÖVP und ihre Sympathisantinnen und Sympathisanten.“
Das Vorhaben der ÖVP sei deshalb „eine unfassbare Anmaßung, brandgefährlich und übergriffig“.
SPÖ muss Personen für Hausbesuche per Inserat suchen
Neben der ÖVP versucht auch die sozialdemokratische SPÖ, auf den letzten Metern noch Boden gutzumachen. Das Vorhaben gelingt bislang nur bedingt. Die Umfragewerte stagnieren auf niedrigem Niveau, und auch an der Basis kommt nicht die erforderliche Begeisterung auf.
Zuletzt hat die SPÖ per Stelleninserat nach Personen gesucht, die sich bereit erklären, im Wahlkampf Hausbesuche zu machen. Diese sollen gemeinsam mit den eigenen Freiwilligen von der Basis bei Bürgern „Feedback sammeln“ und „Informationsweitergabe zu aktuellen politischen Themen“ in Wohnortnähe vornehmen. Die „Klinkenputzer“ sollen mit ihrem Engagement 518 Euro oder mehr verdienen können.
Ungelegen kommt den Genossen auch „Friendly Fire“ vonseiten eines der eigenen Aushängeschilder. Der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil hatte jüngst sein Buch mit dem Titel „Hausverstand“ veröffentlicht. In diesem kritisierte er die Ausrichtung der Bundespartei deutlich. Die SPÖ sei keine Vertretung des kleinen Mannes mehr; die jährliche Selbstinszenierung im Rahmen des traditionellen Aufmarsches zum 1. Mai habe „etwas Überhebliches, nicht mehr Zeitgemäßes“.
Möglicherweise sieben Parteien im künftigen Nationalrat
Einer jüngst publizierten Spectra-Umfrage im Auftrag von „Die Presse“ zufolge steht Österreich vor einer schwierigen Regierungsbildung. Die FPÖ könnte bei den am 29. September stattfindenden Nationalratswahlen mit 27 Prozent rechnen. Ob sie mit der ÖVP, die auf 22 Prozent käme, ein Regierungsbündnis bilden könnte, hängt möglicherweise davon ab, ob es die KPÖ in den Nationalrat schafft.
Bundeskanzler Nehammer hatte eine solche unter einem Bundeskanzler Herbert Kickl ausgeschlossen. Ob sich die FPÖ auf ein Modell nach dem Vorbild des Schüssel-Haider-Paktes von 2000 einlassen würde, ist unwahrscheinlich. Die Partei hatte in dieser Koalition massiv an Rückhalt verloren.
Neben einem – von den Sozialdemokraten bereits kategorisch ausgeschlossenen – Bündnis zwischen Freiheitlichen und SPÖ wäre jedoch keine weitere Zweierkoalition möglich. Selbst die früheren Großparteien SPÖ und ÖVP kämen zusammen nur auf 44 Prozent. Die Grünen wären mit neun Prozent nur noch einstellig, ebenso wie NEOS (neun Prozent) und die „Bierpartei“ von Dominik Wlazny (sechs Prozent). Die Kommunisten kämen auf vier Prozent. Sollten sie diese Hürde knapp verfehlen, wäre immer noch ein Einzug aufgrund eines Grundmandats in Graz oder Salzburg möglich.
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