Österreich in der Krise: Stillstand nach fast fünf Monaten ohne Koalition

Seit der Nationalratswahl in Österreich sind fast fünf Monate vergangen – doch eine neue Regierung ist nicht in Sicht. Nach dem Scheitern der FPÖ-ÖVP-Gespräche könnte nun ein neuer Versuch unternommen werden, eine Große Koalition zu formen. Während sich die Parteien gegenseitig die Schuld zuweisen, wächst in der Bevölkerung das Misstrauen gegenüber der Politik.
FPÖ-Chef Herbert Kickl scheint drei Monate nach der Parlamentswahl auf dem Weg zur Kanzlerschaft
FPÖ-Chef Herbert Kickl, der Kanzler Österreichs werden wollte, ist kurz vor seinem Ziel doch noch gescheitert.Foto: Tobias Steinmaurer/APA/dpa
Von 15. Februar 2025

Erst hatten ÖVP, SPÖ und NEOS 100 Tage unter Bundeskanzler Karl Nehammer lang vergeblich versucht, einen Regierungskonsens zu finden. Einen Monat lang dauerten anschließend die Gespräche zwischen der FPÖ unter Herbert Kickl und dem neuen Chef der Konservativen ÖVP, Christian Stocker. Auch dieser Versuch, eine Koalition zu bilden, scheiterte – und Österreich steht damit knapp fünf Monate nach der Nationalratswahl immer noch ohne Regierung da.

Wie schon nach den gescheiterten Gesprächen zur „Zuckerkoalition“ ergehen sich die Beteiligten in wechselseitigen Schuldzuweisungen. Die ÖVP wirft Kickl vor, im „Machtrausch“ agiert zu haben, als er seiner Partei Finanz- und Innenministerium sichern wollte. Die FPÖ beschuldigt Stocker, die Frage nach der Anzahl an Ministerposten über die Interessen des Landes gestellt zu haben.

Chef der Industriellenvereinigung spricht von „Politikversagen“ in Österreich

In der Öffentlichkeit hat das Scheitern der Regierungsgespräche vor allem dazu beigetragen, das Vertrauen in die Politik weiter zu erschüttern. Der Vorsitzende der Industriellenvereinigung, Georg Knill, spricht von einem „Politikversagen auf Bundesebene“. Für besonders irritierend hält er, dass eine „Postendiskussion“ den Ausschlag für das Ende der Gespräche gegeben habe. Die türkis-rot-liberale „Zuckerkoalition“ sei „wenigstens an den Inhalten gescheitert“.

Die letzte und entscheidende Gesprächsrunde der Verhandler soll schon nach 20 Minuten beendet gewesen sein. Nicht viel länger hatte der Versuch gedauert, nach dem Scheitern des „Zuckerl“-Projekts am Ausstieg der NEOS ein Bündnis aus ÖVP und SPÖ zu bilden. Nun könnte genau dazu ein neuer Anlauf genommen werden.

Bundespräsident Alexander van der Bellen hat am Donnerstag, 13.2., mit den Parteichefs von ÖVP, SPÖ, NEOS und Grünen erneut Gespräche über eine mögliche Regierungsbildung aufgenommen. SPÖ-Chef Andreas Babler erklärte, er könne sich vorstellen, dass „in zwei bis drei Wochen“ eine neue Regierung stehen würde. Deren Kern sollten ÖVP und SPÖ sein, bei Bedarf könne man sich auch um Einvernehmen mit NEOS und Grünen bemühen.

ÖVP will mit SPÖ reden – aber ohne deren Parteichef

Aufseiten der ÖVP ist man über das Angebot wenig begeistert. Immerhin hatte man Babler als „rückwärtsgewandten Marxisten“ und als Hauptverantwortlichen für das Scheitern der ersten Koalitionsgespräche bezeichnet. Jetzt äußern ÖVP-Granden wie Wiens Landeschef Karl Mahrer und Tirols Landeshauptmann Anton Mattle, es solle einen Neuanfang mit der SPÖ geben. Beide stellen jedoch eine Bedingung: Die Verhandlungsführung bei den Sozialdemokraten solle nicht Babler innehaben.

Auch in seiner eigenen Partei ist der seit 2023 amtierende SPÖ-Chef nicht unumstritten. Seine scharf linke Ausrichtung hatte bei der Nationalratswahl zwar einige vormalige Grünen-Wähler angesprochen. Gleichzeitig verloren die Sozialdemokraten ihre Mehrheit in traditionellen Hochburgen wie der Mür-Murz-Furche an die FPÖ. Dass die Partei gegenüber ihrem bis dahin schlechtesten Nationalratswahlergebnis von 2019 nur 0,04 Prozent verlor, verdankte sie hauptsächlich den Zugewinnen in Wien.

Diese gelten jedoch nicht unbedingt als Verdienst Bablers. Vielmehr hatte die dortige Spitzenkandidatin Doris Bures noch im Wahlkampf intern die Realisierbarkeit von dessen Wahlversprechen angezweifelt. Die als Pragmatikerin geltende Vize-Parteichefin gilt auch als Wunschpartnerin für mögliche Gespräche aufseiten der ÖVP.

Sozialdemokraten hatten Strategie bereits auf Blau-Türkis ausgerichtet

Die SPÖ kann es sich jedoch auch nicht leisten, Babler gegen dessen Willen von der Verhandlungsführung abzuziehen. Die gemeinsame Mehrheit von Konservativen und Sozialdemokraten beträgt genau eine Stimme – und einer der Abgeordneten, auf die man zählen muss, ist der SPÖ-Chef.

Die Sozialdemokraten befinden sich trotz der gescheiterten FPÖ-ÖVP-Gespräche in einer unkomfortablen Lage. Sie hatten sich strategisch darauf ausgerichtet, als Opposition gegen Kickl angreifen zu können. Babler-Erzrivale und Asyl-Hardliner Hans-Peter Doskozil hatte im Burgenland knapp die absolute Mehrheit eingebüßt. Nun findet er sich in einer Koalition mit den Grünen wieder. Wiens Landeshauptmann Michael Ludwig ließ die Landtagswahl auf April vorverlegen – ebenfalls in der Erwartung, sich auf Blau-Türkis im Bund einschießen zu können. Jetzt ist diese Überlegung hinfällig.

Doskozil fordert nun eine Expertenregierung – um dem Land ein „Abkühlen“ zu ermöglichen. Diese würde jedoch wenig daran ändern, dass die Parteien in der Bevölkerung massiv an Ansehen verloren haben. Zudem käme es einer Selbstdelegitimierung des Parteiensystems gleich, ein solches Kabinett im Extremfall bis zu den nächsten Wahlen 2029 zu stützen.

Kickl als sicherer Sieger von Neuwahlen?

Ob es zu Neuwahlen kommt, hängt nun davon ab, ob ÖVP und SPÖ einen Weg finden, eine Basis für eine dauerhafte Zusammenarbeit zu finden. Sollte es zu solchen kommen, spricht vieles dafür, dass die ÖVP deutlich unter 20 Prozent abstürzt und die FPÖ weiter zulegt. Allerdings könnten einige Faktoren auch noch die politische Großwetterlage beeinflussen.

Fabian Schmid äußert Zweifel, dass Herbert Kickl aus dem Scheitern der Regierungsgespräche zwingend gestärkt hervorgehen muss. Er vertritt im „Standard“ die Auffassung, dieser sei an seiner Radikalität und an seinem Willen zur „Demütigung des potenziellen Koalitionspartners“ gescheitert. Er habe dadurch eine Chance vergeben, die Jörg Haider und HC Strache vor ihm teils unter weniger günstigen Voraussetzungen genutzt hätten.

Kickl habe Österreich um jeden Preis „in eine blaue Republik umbauen“ wollen. Deshalb habe er auch auf allen Maximalforderungen beharrt – und sei so ein realpolitisch großes Risiko eingegangen. Sollte es zu Neuwahlen kommen, würde er es nicht zwingend mit Stocker und Babler zu tun bekommen. Es könnten neue Akteure auf den Plan treten, so Schmid, auf die Kickl nicht eingestellt wäre:

„Mit Kern, Doskozil, Kurz oder Edtstadler oder ganz anderen Namen würden die Karten neu gemischt werden, ebenso mit neu gegründeten Listen. Und dann müsste Kickl so gut abschneiden, dass an ihm kein Weg vorbeiführt.“

Spekulationen über Einflussnahme aus Berlin und Brüssel

Angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl in Deutschland spekulieren einige politische Berater – vor allem aus dem Umfeld der FPÖ – über eine mögliche Einflussnahme aus Brüssel oder Berlin, die zum Scheitern der Regierungsverhandlungen geführt habe.

So geht unter anderem der Politikberater Heimo Lepuschitz von einer „massiven Einflussnahme“ aus dem Ausland auf die ÖVP aus. In einer Talkshow bei „Servus TV“ wies er am Sonntag auf Sitzungen der Europäischen Volkspartei (EVP) und Aussagen deutscher Unionspolitiker hin. Auch Kanzlerkandidat Friedrich Merz hatte im Januar vor dem WEF erklärt, eine Koalition unter freiheitlicher Führung in Österreich wäre ein „Desaster“.

Inwieweit ein solcher Einfluss tatsächlich eine Rolle gespielt hat, ist jedoch fraglich. Zweifellos gibt es die Neigung deutscher Politiker und Medien und manchmal auch der EU, Ratschläge in Richtung Wien zu richten. Ihr Erfolg war bislang jedoch begrenzt. Auch hatten politische Entwicklungen in Österreich selten direkte Auswirkungen auf solche in Deutschland und umgekehrt.

Österreich hat sich bislang Belehrungen aus dem Ausland verweigert

So hatte es in Deutschland mit der FPÖ unter Jörg Haider seit 1986 eine erfolgreiche „rechtspopulistische“ Partei gegeben – im Nachbarland für 30 weitere Jahre nicht. Im Gegenzug hatten die Grünen in Österreich nie die Bedeutung, die sie in Deutschland hatten, und es gab auch keine Linkspartei, wie sie sich 2005 bundesweit etablierte. Bis zu diesem Jahr war in Deutschland – anders als im Nachbarland – auch eine Große Koalition unüblich.

Grundsätzlich herrschte in Österreichs Öffentlichkeit lange Zeit das Bild einer „Insel der Seligen“ vor, die sich inmitten des Weltgeschehens selbst genüge. Der Ausdruck stammte von Papst Paul VI., der ihn 1971 im Vatikan gegenüber Bundespräsident Franz Jonas gebraucht hatte. Schon seit 1945 war man in Österreich auch eher bestrebt, sich vom Geschehen bei den „Piefkes“, so der dort gängige Schmähbegriff für die deutschsprachigen Nachbarn, abzugrenzen.

Auch die Neigung, sich von der EU einschüchtern zu lassen, ist in Österreich nicht ausgeprägt. Die temporären diplomatischen Sanktionen aus Brüssel konnten im Jahr 2000 die Bildung einer Koalition aus ÖVP und FPÖ unter Wolfgang Schüssel nicht aufhalten. Nach den „Knittelfeld“-bedingten Neuwahlen 2002 gab es sogar eine Neuauflage mit deutlich geschwächten Freiheitlichen. Hier hatten deutsche Entwicklungen insofern eine Auswirkung, als angekündigte Steuererhöhungen der kurz zuvor wiedergewählten rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder der ÖVP einen überraschenden Wahlsieg bescherten.

Merz sieht sich in Ablehnung einer Zusammenarbeit mit der AfD bestärkt

Auch Sebastian Kurz machte 2017 frühzeitig deutlich, eine Koalition mit der FPÖ unter Heinz-Christian Strache anzustreben, und hatte diese zügig gebildet. Deutsche Medien spielten zwar 2019 die entscheidende Rolle bei der Veröffentlichung des „Ibiza“-Videos. Das Regierungsbündnis zerbrach jedoch nicht an Strache, der unmittelbar danach seinen Rücktritt erklärt hatte. Der Grund für das Ende des Kabinetts Kurz I war, dass der ÖVP-Kanzler bei dieser Gelegenheit erfolglos die Ablösung Kickls als Innenminister forderte.

Das derzeitige Scheitern der Koalitionsgespräche zwischen FPÖ und ÖVP in Österreich dient CDU-Chef Friedrich Merz jedoch als zusätzliches Argument für seine Ablehnung jeglicher Zusammenarbeit mit der AfD. Allerdings gab es in der Union auch unabhängig davon kaum Bereitschaft, eine Annäherung zu suchen.



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