Nigeria: Entführungen als Wirtschaftszweig – Staat gegen Banditen und Terrorgruppen machtlos

Während der Süden von Nigeria zu den vielversprechenden Wachstumsregionen Afrikas zählt, kommt im Norden des Landes kaum etwas vom Aufschwung an. Banditen und Terrorgruppen treten immer häufiger mit Entführungen in Erscheinung – Opfer sind vor allem Schulkinder.
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Mitglieder der nigerianischen Sicherheitskräfte sehen zu, wie über 130 Kinder, die nach einer Entführung durch bewaffnete Männer in Kuriga freigelassen wurden, am 28. März 2024 in Kuriga mit ihren Familien zusammengeführt werden.Foto: Emmanuel Buba/AFP via Getty Images
Von 5. August 2024

In den 2010er-Jahren zählte Nigeria zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften Afrikas. Nach einer vorübergehenden Durststrecke aufgrund der Corona-Krise ist das Land wieder in einem dynamischen Wachstumsbereich zwischen drei und fünf Prozent jährlich angekommen.

Allerdings macht sich der Aufschwung nicht überall bemerkbar. Vor allem im Norden des Landes kommt davon wenig an – und das ist Wasser auf die Mühlen von Banditen und Terroristen. Diese machen zunehmend durch Entführungen von sich reden und sorgen damit für eine „Umverteilung“ in ihrem Sinne.

Zahl der Entführung deutlich höher als in Mexiko oder Kolumbien

Das Phänomen, dass Entführungen und Lösegelderpressung in bestimmten Regionen von Schwellenländern zum Wirtschaftsfaktor werden, ist weder neu noch auf Afrika begrenzt.

In lateinamerikanischen Staaten haben sich zahlreiche Banden auf diese Art von Verbrechen spezialisiert. Auf den Philippinen waren dschihadistische Verbände wie Abu Sayyaf oder der IS Dachorganisationen für den Versuch, durch Kidnapping zu schnellem Geld zu kommen. Im Visier standen dabei vor allem Ausländer.

Was die Lage in Nigeria davon unterscheidet, ist zum einen, dass es sowohl „reguläre“ Banditen als auch Terrorgruppen gibt, die verstärkt auf Entführungen setzen. Zum anderen ist es das Ausmaß der Verbrechen, das in den vergangenen Jahren immer größer geworden ist – mit weiter steigender Tendenz.

Täglich kommt es in Nigeria im Schnitt zu zehn Entführungen. Selbst in Mexiko oder Kolumbien ist es maximal ein Fall pro Tag. Und die Verantwortlichen suchen dabei bewusst die öffentliche Aufmerksamkeit. So waren allein im März des Jahres innerhalb von nur einer Woche 500 Menschen im Norden des Landes entführt worden.

Hunderte Fälle von Massenkidnapping in den vergangenen fünf Jahren

Da sich nur wenige Touristen aus wohlhabenden Ländern in die Gegenden verirren, für die strikte Reisewarnungen gelten, haben sich die Banden auf Massenkidnappings fokussiert. Der Hilfsorganisation „Save The Children“ zufolge wurden seit 2014 mehr als 1.680 Schülerinnen und Schüler zum Opfer von Verschleppungen.

Am 7. März entführte eine kriminelle Gang in Kuriga im Bundesstaat Kaduna 287 Schüler und zwei Tage später eine andere 17 Schüler aus einer weiterführenden Schule in Gidan Bakuso im Bundesstaat Sokoto. Dem Fachdienst „SBM Intelligence“ zufolge ist es in Nigeria seit 2019 zu 735 Massenentführungen gekommen. Allein im laufenden Jahr seien es bislang 68 gewesen.

Zwischen Juli 2022 und Juni 2023 seien bei 582 Entführungen insgesamt 3.620 Menschen entführt worden. Insgesamt seien zu deren Befreiung etwa fünf Milliarden Naira geflossen, was 3,9 Millionen Euro entspricht. In sozialen Medien finden sich immer wieder Spendenaufrufe, die darauf ausgerichtet sind, Lösegeldsummen anzusammeln.

Entführungen richten sich häufig gegen Schulen – Täter rechnen mit höherer Zahlungsbereitschaft

Neben Reisenden, Geschäftsleuten, Priestern und allen Personen, die einen wohlhabenden Eindruck erwecken, sind vor allem Kinder und Schulklassen primäres Ziel von Entführungen. Im Jahr 2014 hatte die Terrororganisation Boko Haram mit der Verschleppung von 300 jungen Frauen international Aufsehen erregt. Mittlerweile haben kriminelle Banden die Führung in diesem Bereich übernommen.

Diese besonders vulnerablen Gruppen zählen zu den bevorzugten Entführungsopfern, weil sich die Täter öffentliche Anteilnahme erwarten. Dies macht es wahrscheinlicher, dass sich Angehörige oder der Staat bereit zeigen, die geforderten Lösegeldsummen aufzubringen.

In einigen Fällen wurden Entführte misshandelt oder missbraucht, es kam auch zu Ermordungen, wenn Zahlungsfristen verstrichen waren.

Die Entführungen und das Treiben der Banden und Terrororganisationen schneiden die ärmeren Regionen des Landes jedoch noch stärker vom Wohlstand ab.

Wer es sich leisten kann, verlässt die betroffenen Regionen. In den vergangenen Jahren haben zwei Millionen Menschen den Norden des Landes verlassen – am häufigsten in Richtung der Metropolen wie Lagos oder Abuja.

In den Weiten des dünn besiedelten Nordens, wo die Verbindungswege lang, beschwerlich und von Wegelagerern gesäumt sind, stoßen selbst Polizei und Armee an ihre Grenzen. Zunehmend verlassen sie sich deshalb auf freiwillige Selbstverteidigungsmilizen, die durch brutales und unterschiedsloses Vorgehen die Spannungen häufig noch zusätzlich anheizen.

Fehlen funktionierender staatlicher Strukturen macht es nicht staatlichen Akteuren leichter

Ein weiteres Problem ist die Korruption im Land, die es ebenfalls erschwert, effiziente Maßnahmen gegen das Überhandnehmen von Terror und Gesetzlosigkeit zu ergreifen. Ein erster Schritt dagegen wäre Beobachtern zufolge der Aufbau funktionstüchtiger und rechtsstaatlicher Verwaltungsstrukturen.

Immerhin sind die Entführungen auch eine Folge fehlender oder überforderter staatlicher Strukturen in den betroffenen Regionen. Dies erleichtert nicht staatlichen Akteuren die Eroberung und Festigung eigener Einflussbereiche.



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