Neue EU-Kommission: Spannungen und Überraschungen in Brüssel
Am Dienstag, 17. September, hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die designierten Mitglieder ihrer künftigen EU-Kommission vorgestellt. Diese besteht aus 26 Kommissaren – darunter sechs Exekutiv-Vizepräsidenten. Alle Nominierten müssen sich in den kommenden Wochen einer Anhörung durch das EU-Parlament stellen. Jeder Mitgliedstaat hat das Recht, einen Kommissar zu entsenden. Von der Leyen muss den Vorgeschlagenen jeweils ein Ressort zuweisen.
Kontroverse mit Breton im Vorfeld der Bestellung der neuen EU-Kommission
Bereits im Vorfeld der Präsentation aller Nominierten hatte es böses Blut gegeben. So galt der bisherige Kommissar für Binnenmarkt, Industrie und Digitales, Thierry Breton, als Favorit für eine Beförderung. Beobachter gingen davon aus, dass dieser zumindest einen der Stellvertreterposten bekleiden würde.
Stattdessen reichte Breton, der nicht zuletzt durch den „Digital Services Act“ und seine Drohungen an Elon Musk bekannt geworden war, seinen Rücktritt ein. Dabei warf er von der Leyen „fragwürdige Führung“ vor. Breton selbst hatte Kritik am Wunsch der Kommissionspräsidentin geäußert, ihren Vertrauten Markus Pieper zum EU-Beauftragten für kleine und mittlere Unternehmen zu machen.
Pieper zog sich daraufhin zurück. Von der Leyen revanchierte sich, indem sie Frankreich darum bat, eine andere Person als Kommissar zu ernennen – und im Gegenzug ein mächtigeres Resort in Aussicht stellte. Paris ließ sich darauf ein: Künftig wird Stéphane Séjourné als Industriekommissar fungieren. Vorher war der ehemalige Lebensgefährte von Ex-Premierminister Gabriel Attal französischer Außenminister. Vor fünf Jahren brüstete sich Präsident Emmanuel Macron noch damit, Breton als seinen Kandidaten durchgesetzt zu haben.
Mit Fitto der „Vertreter einer rechtsextremen Partei“ unter den Stellvertretern
Für Unmut auf der Linken sorgt unterdessen, dass Italien künftig durch Raffaele Fitto repräsentiert sein soll – als Kommissar für Regionalförderung und als Exekutiv-Vizepräsident. Gegenüber „Euractiv“ gibt die europäische Grünen-Vorsitzende Terry Reintke ihrer Enttäuschung über diese Personalie Ausdruck.
Sie wies darauf hin, dass vor allem die Stimmen der Grünen der EU-Kommissionspräsidentin im EU-Parlament ihre Wiederwahl gesichert hatten. Nun drohe ein „Rutsch nach rechts“. Ihr Parteikollege Rasmus Andresen nannte es „völlig unverständlich“, dass „ein Vertreter einer rechtsextremen Partei“ den Posten erhalte. SPE-Politikerin Katarina Barley weist darauf hin, dass Fittos Ressort etwa ein Drittel des EU-Haushalts ausmache. Es bestehe eine Gefahr, dass „es sehr auf italienische Verhältnisse zugeschnitten wird“.
Fitto hatte im Laufe seiner politischen Karriere Funktionen bei den mittlerweile aufgelösten Christdemokraten (DC) und Forza Italia bekleidet. Mitte der 2010er-Jahre versuchte er, in Italien eine politische Kraft der „Konservativen und Reformer“ aufzubauen. Da die Formationen lediglich auf lokaler Ebene Bedeutung entfalteten, führte Fitto deren Restbestände 2019 in die Reihen der „Fratelli d’Italia“ über.
In den 2000er Jahren wurden gegen Fitto Vorwürfe des Amtsmissbrauchs, der Korruption und der illegalen Parteienfinanzierung laut. Er soll der Region Apulien auf diese Weise die Leitung mehrerer Pflegeheime gesichert haben. Im Februar 2013 verurteilte ihn ein Gericht erster Instanz zu vier Jahren Gefängnis und fünf Jahren Amtsenthebung. Die Strafe wurde später abgemildert – am Ende sprach ihn ein Berufungsgericht frei.
„Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit“ statt „Klima“ an erster Stelle
Kritik gab es auch an der fehlenden Geschlechterparität der neuen Kommission. Nach derzeitigem Stand beträgt der Frauenanteil 40 Prozent. Berichten zufolge musste selbst dieser Anteil erst durch Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten sichergestellt werden. Ursprünglich seien nur 22 Prozent der vorgeschlagenen Kommissare weiblich gewesen. Immerhin sind vier von sechs Vizepräsidenten Frauen.
Eine davon ist die frühere estnische Premierministerin Kaja Kallas. Ursprünglich war diese als NATO-Generalsekretärin im Gespräch. Allerdings stieß sie dort wegen ihrer besonders harten antirussischen Haltung auf zu viel Widerstand. Als Außenbeauftragte der EU soll sie hingegen den neuen Schwerpunkten „Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit“ ihren Stempel aufdrücken.
Kallas sieht das gesamte russische Volk in der Verantwortung für den Krieg in der Ukraine. Man könne, so verriet sie der „Zeit“, „einfach nicht behaupten, dass dies nur Putins Krieg ist“. Auch deshalb trat sie dafür ein, russischen Staatsangehörigen keine Visa mehr für die EU zu erteilen, denn „nach Europa zu kommen, ist kein Recht, sondern ein Privileg“. Frieden ist Kallas eigenen Angaben zufolge „nicht das oberste Ziel“.
Kallas Familie nach Sibirien deportiert
In der Russischen Föderation besteht ein offener Haftbefehl gegen Kallas. In ihrer Zeit als Premierministerin von Estland fiel eine breit angelegte Kampagne zum Abriss von Denkmälern, die an den Sieg der Sowjetunion gegen den Nazismus im Zweiten Weltkrieg erinnerten. Ein möglicher biografischer Grund für die Russophobie von Kallas könnte darin liegen, dass ihre Mutter Kristi im Kleinkindalter mit ihrer Großmutter 1949 nach Sibirien deportiert wurde.
Die Familie war ins Visier der Behörden geraten, weil Kallas‘ Urgroßvater Eduard Alver ein Führungskader der estnischen Elite und Freiwilligenmiliz „Kaitseliit“ war. Diese 1918 gegründete Formation stellte sich während des estnischen Unabhängigkeitskrieges gegen die Rote Armee. Während der sowjetischen Besatzung 1940 wurde die Organisation aufgelöst, aber nach der deutschen Besetzung Estlands 1941 wurde sie teilweise reaktiviert. Einige Mitglieder kollaborierten mit den Nationalsozialisten, um gegen die sowjetische Herrschaft zu kämpfen, während andere den Widerstand gegen die deutsche Besatzung suchten.
Die Deportation nach Sibirien war der Preis, den „Zehntausende Esten für den Willen zur Unabhängigkeit zahlen mussten – die patriotische Elite Estlands, die Moskau auszurotten versuchte“, schreibt die prowestliche Zeitung „European Pravda“.
Als Kristi zehn Jahre alt war, konnte die Familie in die Estnische SSR zurückkehren.
In Estland selbst begann der Stern von Kaja Kallas erst aufgrund von Berichten im August 2023 zu sinken, wonach ihr Ehemann Arvo Hallik am Transportunternehmen Stark Logistics beteiligt war. Dieses soll auch nach dem Beginn des Ukrainekriegs 2022 trotz Sanktionen Lieferungen nach Russland getätigt haben.
Ungarischer Nominierter bezeichnete EU-Abgeordnete als „Idioten“
Mit dem Litauer Andrius Kubilius soll ein weiterer Politiker mit Einreiseverbot in Russland einen sensiblen Posten in der EU-Kommission erhalten. Er soll ausgerechnet das neu geschaffene Verteidigungsressort leiten. Zwar ist Verteidigungspolitik Sache der Mitgliedstaaten, die EU will jedoch eine stärkere koordinierende Rolle übernehmen.
Der zweimalige Premier Litauens gehörte nach dem Staatsstreich von 2014 in der Ukraine zum offiziellen Beraterkreis des Präsidenten Petro Poroschenko. Als Berichterstatter des EU-Parlaments zu den Beziehungen zu Russland erklärte er, es sei „unmöglich“, gute Beziehungen zu Russland zu unterhalten. Die Türkei würdigte er, weil diese – in Syrien, Libyen und Bergkarabach – „dreimal bewies, dass der Kreml die Faust fürchtet“.
Während Kallas und Kubilius mit der Bestätigung durch eine Mehrheit der EU-Abgeordneten rechnen können, wird es gegen den von Ungarn vorgeschlagenen Kandidaten Olivér Várhelyi vermutlich Kontroversen geben. Er soll für Gesundheit und Tierschutz zuständig sein. Angekreidet wird ihm als Bremser bezüglich eines EU-Beitritts der Ukraine zu gelten. Außerdem soll er die EU-Abgeordneten vor eingeschaltetem Mikrofon als „Idioten“ bezeichnet haben.
Für die Migration wird künftig ein Österreicher zuständig sein. Von der Leyen hat für diesen Bereich den scheidenden Finanzminister Magnus Brunner vorgesehen. Er war bis dato noch wenig mit dem Thema befasst, sondern vorrangig mit Wirtschafts- und Finanzpolitik. Innerhalb der ÖVP gilt der Vorarlberger als Pragmatiker.
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