Nach einem Jahr Patt-Situation: Welche Friedensperspektiven gibt es?

In wenigen Tagen ist es genau ein Jahr her, dass Russland die Ukraine angegriffen hat. Die Situation ist ziemlich festgefahren: Keine Seite konnte bisher einen entscheidenden Sieg verzeichnen. Experten sehen die Ukraine trotzdem in einer guten Situation.
Russische Soldaten bei einem Einsatz in der Ukraine (Archivbild).
Russische Soldaten bei einem Kampfeinsatz in der Ukraine (Archivbild).Foto: Russian Defense Ministry Press Service/AP/dpa
Von 15. Februar 2023

Am 24. Februar ist es genau ein Jahr her, dass Russland die Ukraine angegriffen hat. Was als Blitzkrieg gedacht war, ist nun – nach zwölf Monaten – ein Patt. Keine Seite ist militärischer Sieger und momentan ist auch nicht abzuschätzen, wie sich die Situation in den nächsten Monaten entwickelt. Fest steht nur, dass weder Kiew noch Moskau bereit sind, miteinander zu verhandeln. Die Situation ist also festgefahren.

Keine Anzeichen für baldiges Ende

Ein baldiges Ende des Krieges ist also derzeit nicht zu erwarten. Der Fernsehsender n-tv zitiert Jon Altermann von der Denkfabrik „Center for Strategic and International Studies“ mit den Worten: „Es gibt keine Anzeichen für ein baldiges Ende. […] Jede Seite denkt, dass die Zeit auf ihrer Seite ist und dass es ein Fehler wäre, sich jetzt zu einigen.“

Beobachter der Lage befürchten, dass der Krieg im zweiten Jahr heftiger werden könnte. Russland könnte im Frühjahr noch einmal seine Kräfte zusammenziehen und eine Offensive starten.

Über bisherige Verluste kann nur spekuliert werden

Der Krieg hat schon heute sehr viele Opfer gefordert. Über die wirkliche Höhe lässt sich nur spekulieren. Sowohl die Ukraine als auch Russland berichten täglich über die Verluste der Gegenseite. Diese Zahlen werden aber nicht von einer unabhängigen Stelle überprüft und müssen daher kritisch betrachtet werden.

Im Januar hatte der norwegische Generalstabschef Eirik Kristoffersen sich in einem Interview mit dem norwegischen Sender TV2 über Schätzungen geäußert. Kristoffersen ging damals davon aus, dass die russische Seite mehr Soldaten verloren hat als die ukrainische Seite. Konkret gingen die norwegischen Schätzungen von 180.000 getöteten oder verwundeten russischen Soldaten aus. Auf ukrainischer Seite seien es vermutlich mehr als 100.000 getötete oder verwundete Angehörige des Militärs. Zudem seien bisher 30.000 ukrainische Zivilisten getötet worden. Wie diese Zahlen zustande kamen, ließ der General im Interview offen. Andere westliche Schätzungen gehen von 150.000 Opfern auf jeder kriegsbeteiligten Seite aus.

Egal welche Zahlen man anlegen möchte: Die Verluste auf beiden Seiten sind nach einem Kriegsjahr extrem hoch. Zum Vergleich: Der Afghanistan-Krieg der Sowjetunion von 1979 bis 1989 hatte rund 15.000 sowjetische Soldaten das Leben gekostet.

Trotz schwerer Verluste sei Russland in der Lage, diesen Krieg „ziemlich lange fortzusetzen“, sagte Generalstabschef Kristoffersen im TV2-Interview und verwies auf Moskaus Mobilisierungs- und Waffenproduktionskapazitäten.

Unterstützung durch den Westen

Die Ukraine ist ebenfalls fest entschlossen, den Krieg zu ihren Gunsten zu beenden. Dem Land geht es dabei vor allem um die Rückeroberung verlorener Gebiete. Vom Westen wird der angegriffene Staat dabei immer stärker mit Waffenlieferungen unterstützt. Auf Skepsis stößt dort aber der Plan, die bereits 2014 von der Ukraine abgetrennte Krim unter ukrainische Kontrolle zu bringen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte laut „Zeit“ vor einigen Tagen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi in Paris zugesichert, „er sei entschlossen, der Ukraine zum Sieg zu verhelfen“.

Das bedeute aber nicht, dass der Krieg zwangsläufig mit einer klaren russischen Niederlage enden müsse, sagte Liana Fix vom US-Thinktank „Council on Foreign Relations“ laut dem Fernsehsender n-tv. „Ich denke, das wahrscheinlichste Szenario sind ukrainische Gewinne, die zu einem ausreichenden Sieg führen“, sagte Fix. Russland könnte zwar eine große Zahl neuer Soldaten mobilisieren, doch müssten diese ausgebildet, ausgerüstet und verpflegt werden –Aufgaben, bei denen die russische Armee „in diesem Krieg bisher wirklich schlecht war“.

Nach Informationen von n-tv hält Dimitri Minic von der französischen Denkfabrik „Ifri“ vor allem die Art der Waffen für kriegsentscheidend, welche die Ukraine von ihren Verbündeten bekommt. Artillerie mit größerer Reichweite zum Beispiel „könnte es der ukrainischen Armee ermöglichen, den Zyklus von Angriff, Gegenangriff und Verteidigung zu durchbrechen und einen entscheidenden Sieg zu erringen“, sagte Minic.

Er verweist aber auch auf die Entschlossenheit des Kremls: „Die Russen sind bereit, alles zu tun, um die besetzten Gebiete zu halten und ihre Eroberungen fortzusetzen, einschließlich einer unbegrenzten Mobilisierung und der Verarmung ihres gesamten Landes, wenn es sein muss.“

Waffenlieferungen haben eine Eigendynamik entwickelt

US-Experte Jon Altermann hält aber auch ein anderes Szenario für denkbar, das zum Kriegsende führen könnte: einen Führungswechsel in Russland. Er könne sich auch eine Art Waffenstillstand vorstellen. „Aber es ist noch zu früh, um das zu sagen“, sagte Alterman. Eine richtige Verhandlungsbereitschaft sehe er im Moment auf keiner Seite.

Erst kürzlich sprach sich der Philosoph Jürgen Habermas in einem Gastbeitrag für die „Süddeutsche Zeitung“ für Verhandlungen aus.  Der Westen leiste im Moment aus guten Gründen militärische Hilfen an die Ukraine. Daraus erwachse aber auch Verantwortung. „Aus der Perspektive eines Sieges um jeden Preis hat die Qualitätssteigerung unserer Waffenlieferungen eine Eigendynamik entwickelt, die uns mehr oder weniger unbemerkt über die Schwelle zu einem dritten Weltkrieg hinaustreiben könnte“, warnte Habermas.

Immer wieder tauchten kritische Stimmen auf, die auf Verhandlungen drängen würden: „Wenn ich mich diesen Stimmen anschließe, dann gerade, weil der Satz richtig ist: Die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren“, schrieb Habermas. Er räumte ein, dass es derzeit keine Anzeichen dafür gebe, dass sich der russische Präsident Wladimir Putin auf Verhandlungen einlassen werde.

Habermas benannte als Kernproblem der Debatte, dass die Ziele der Ukraine und ihrer Unterstützer unklar seien. „Ist es das Ziel unserer Waffenlieferungen, dass die Ukraine den Krieg ,nicht verlieren‘ darf, oder zielen diese nicht vielmehr auf einen ,Sieg‘ über Russland?“

Der Philosoph hatte bereits im vergangenen April in einem viel beachteten Gastbeitrag für die „Süddeutsche Zeitung“ zur Besonnenheit gemahnt.



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