Nach dem Putsch: Erdogans Präsidialsystem kaum noch aufzuhalten
Mit dem Beginn der Parlamentsdebatte über die umstrittene Verfassungsreform ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seinem Ziel der Einführung eines Präsidialsystems einen großen Schritt näher gekommen. Zwar gibt es bei seinen Verbündeten von der ultrarechten MHP ebenso wie in der eigenen Partei Vorbehalte gegen die Pläne und die Zustimmung der Türken in einem geplanten Referendum ist ungewiss. Experten erwarten dennoch, dass die Reform am Ende durchgeht.
Erdogan verfolgt die Einführung des Präsidialsystems bereits seit seiner Wahl zum Präsidenten 2014, doch stellte er das Vorhaben zurück, nachdem seine islamisch-konservative AKP bei der Parlamentswahl 2015 einen schweren Rückschlag erlitten hatte. Erst nach dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli brachte er das Vorhaben wieder in die Diskussion und gewann im Oktober auch die Unterstützung des MHP-Vorsitzenden Devlet Bahceli.
Im Dezember legten Ministerpräsident Binali Yildirim und Bahceli nach langen Verhandlungen dann den Entwurf für die Reform vor. Die Pläne stießen bei etlichen MHP-Abgeordneten auf Ablehnung, von denen sieben inzwischen ankündigten, mit Nein zu stimmen. Auch in der AKP-Fraktion gibt es Medienberichten zufolge Vorbehalte gegen die Schwächung des Parlaments und die Konzentration der Macht in den Händen des Präsidenten.
Wie türkische Medien berichteten, besteht in Teilen der AKP die Befürchtung, dass die Ausrichtung des gesamten Systems auf Erdogan der AKP eines Tages auf die Füße fällt. Denn sollte Erdogan nicht mehr da sein und die Opposition die Präsidentschaft gewinnen, würde sich das System gegen die AKP wenden. Außerdem haben kurdische AKP-Abgeordnete Vorbehalte gegen das Bündnis mit den Nationalisten der MHP.
Der Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, Kristian Brakel, hat aber Zweifel, dass trotz dieser Vorbehalte AKP-Abgeordnete tatsächlich „ihre Stellung riskieren, indem sie gegen die Pläne stimmen“. Um ein Referendum über die Reform anzusetzen, brauchen AKP und MHP 330 Stimmen. Da sie zusammen auf 355 Sitze kommen, hätten sie selbst bei zwei Dutzend Abweichlern noch genug Stimmen.
„Es ist unwahrscheinlich, dass eine bedeutende Anzahl von AKP-Abgeordneten gegen den Vorschlag stimmt“, sagt auch der türkische Politikexperte Galip Dalay vom Al-Sharq Forum in Istanbul. „Obwohl eine ganze Reihe Abgeordnete unzufrieden ist mit der Führung, wird kein AKP-Politiker sich offen auflehnen und seine Karriere gefährden, indem er sich abspaltet, solange die Partei an der Macht ist.“
Wenn im Parlament die nötige Mehrheit zusammenkommt, wird die Reform voraussichtlich Anfang April den Türken zur Abstimmung vorgelegt. Mehrere Umfragen zeigten zuletzt die Bevölkerung in ihrer Haltung zum Präsidialsystem gespalten. Demnach könnte die Reform knapp die 50 Prozent verfehlen. Brakel warnt aber, dass es „in der aktuellen Lage nicht möglich ist, seriös die Stimmung im Land zu erfassen“.
Dalay erwartet, dass Erdogan versuchen wird, „das Referendum zu politisieren und es zu einer Abstimmung über Sicherheit und Stabilität zu machen, anstatt in die Details der Reform zu gehen“. Angesichts der sehr realen Bedrohung der Türkei durch Anschläge der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und des Islamischen Staats (IS) könnte eine Mehrheit letztlich Erdogans Argumentation folgen, dass es in Zeiten der Krise eine starke Führung braucht.
„Auch wenn viele ihrer Wähler unzufrieden sind mit der Politik der AKP, werden sie bleiben, weil sie keine Alternative sehen“, sagt Dalay. In der stark polarisierten Stimmung im Land käme für viele konservative Türken ein Wechsel ins Lager der säkularen Opposition nicht in Frage. Ein Scheitern der Verfassungsreform hält Dalay daher derzeit für unwahrscheinlich, doch verweist er zugleich darauf, dass in den kommenden drei Monaten noch viel passieren könne – zumal in der Türkei.
uvs/cp
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