Moria: Griechenland hat wenig Bedarf an deutschen Angeboten zur Aufnahme von Asylbewerbern

In der „Welt“ erläutern Praktiker und Experten, warum in Griechenland wenig Bedarf an deutschen Angeboten zur Aufnahme von Moria-Flüchtlingen besteht. Mit der Türkei über ein neues Abkommen zu verhandeln, wäre aus Sicht Athens eine bessere Option für die EU.
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Der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis.Foto: JOHN THYS/POOL/AFP via Getty Images
Von 16. September 2020

Die Situation nach dem Brand im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos hat die deutsche Bundesregierung veranlasst, sich zur Aufnahme von 1.553 Migranten bereit zu erklären. Bei diesen 1553 Migranten „handelt es sich um 408 Familien mit Kindern, die nicht aus dem abgebrannten Lager Moria stammen, sondern die bereits länger in Griechenland leben und dort als schutzbedürftig anerkannt wurden“, wie der Publizist Gabor Steingart schreibt.

Bereits zuvor hatte man auch zugesagt, 100 bis 150 jugendliche Asylsuchende aufnehmen zu wollen. Ob, wann und wie viele Flüchtlinge am Ende tatsächlich ihren Weg nach Deutschland antreten werden, ist jedoch offen: Die Regierung von Griechenland hat bis heute noch gar keine Anforderung gestellt, auf diese Weise entlastet zu werden.

Hat Aufnahme-Verlautbarung Brand auf Samos provoziert?

Gerald Knaus, Leiter des Thinktanks Europäische Stabilitätsinitiative (ESI), hat mit der „Welt“ über die wahrscheinlichen Gründe gesprochen, warum man es in Athen diesbezüglich auch nicht eilig zu haben scheint.

Premierminister Kyriakos Mitsotakis und mehrere seiner Kabinettsmitglieder haben deutlich gemacht, dass sie von „einigen hyperaktiven Flüchtlingen und Migranten“ als Verantwortlichen für den Brand im Lager Moria ausgingen. Deren Ziel sei es gewesen, die Regierung zu erpressen und ihre Verlegung weg von der Insel zu erzwingen.

Diesem Ansinnen will die griechische Regierung um keinen Preis nachgeben, allein schon, um potenzielle Nachahmer abzuschrecken. Der jüngste, allerdings mittlerweile offenbar wieder unter Kontrolle gebrachte Brand nahe einem Aufnahmelager bei Samos am Dienstag (15.9.), wenige Stunden nach der Einigung über die Aufnahme von Moria-Flüchtlingen unter den Koalitionsspitzen in Berlin, legt den Schluss nahe, dass diese Befürchtung nicht aus der Luft gegriffen sein könnte. Die Überfüllungssituation und die hygienischen Bedingungen im Lager auf Samos sollen noch prekärer sein als in Moria.

Tsipras wollte Retourkutsche an Merkel – Mitsotakis will Sicherheit

Knaus geht davon aus, dass Griechenlands Regierung allenfalls bereit sein würde, Personen mit positivem Asylbescheid ausreisen zu lassen. Die übrigen will man in neu errichteten Zeltlagern unterbringen.

Damit nimmt Mitsotakis eine diametral entgegengesetzte Position zu seinem Amtsvorgänger Alexis Tsipras ein. Der Linksaußenpolitiker, der mit der deutschen Regierung noch eine Rechnung aus der Zeit der Eurokrise offen hatte, winkte Asylsuchende, die es nach Griechenland geschafft hatten, im Sommer 2015 durch, ohne Erstaufnahmeverfahren durchzuführen. Auf diese Weise sorgte er für eine Zuspitzung entlang der Balkanroute und indirekt für Druck auf Deutschland.

Diesmal hat Athen jedoch – abseits vom Argument der „Erpressung“ – noch einen weiteren gewichtigen Grund, um sich einer Weiterreise der Asylsuchenden zu widersetzen. Die griechische Regierung will dafür sorgen, dass der Druck auf die EU steigt, mit der Türkei über ein neues und verbindliches Abkommen über die Rücknahme abgelehnter Asylbewerber sowie die Kontrolle der Ausreise zu verhandeln.

Parallel zu gestiegenen Spannungen zwischen Ankara und Athen hinsichtlich der Zypern-Frage und der Erdgas-Nutzungsrechte im östlichen Mittelmeer hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan Ende Februar mehrere tausend in der Türkei ansässige Flüchtlinge an die Grenze beordert und ungehindert Boote in Richtung der griechischen Inseln besteigen lassen.

Canossagang nach Ankara oder Gesichtsverlust

Offiziell begründete Erdoğan dies mit ausgebliebenen Zahlungen der EU aus dem Flüchtlingsdeal von 2016. Inoffiziell zeichnete sich ab, dass die Türkei auf diese Weise ihren politischen Forderungen mit Blick auf Syrien, Libyen und das östliche Mittelmeer Nachdruck verleihen wollte. De facto hat Erdoğan damit das bestehende Abkommen von 2016 aufgekündigt – und in der Tat hieß es aus Ankara mehrfach, dass dieses hinfällig sei. Knaus vermutet:

Die griechische Regierung hat Angst davor, dass jetzt, wo es keine Einigung mehr mit der Türkei gibt, die türkische Regierung sehr, sehr viel mehr Migranten auf die griechischen Inseln schicken würde, wenn die Menschen aus Moria evakuiert werden würden.“

Nun stehe man vor der Alternative, entweder den Canossagang zu Erdoğan anzutreten und über einen neuen Deal zu verhandeln, oder sein Gesicht zu verlieren:

„Entweder sie [die Politik] akzeptiert, dass es unwürdig ist, Menschen in solch schrecklichen Bedingungen leben zu lassen und sie als Abschreckung zu missbrauchen. […] Oder die Politik akzeptiert, dass die fürchterlichen Zustände, in denen Migranten auf den griechischen Inseln leben müssen, als Abschreckung dienen sollen. Damit würde die EU aber offen zeigen, dass sie die Menschenrechtsabkommen nicht mehr einhält.“

Lieber türkische Flüchtlingslager als Moria

Letztgenanntes wäre auch Wasser auf die Mühlen der Regierung Erdoğan und der diesem nahestehenden türkischen Medien, die seit Jahr und Tag Häme ob des „Rassismus“ ausgießen, der ihrer Überzeugung nach der Hauptgrund sei, warum die EU so große Anstrengungen aufwende, um zu verhindern, dass Migranten über ihre Grenze kämen.

Ein früherer griechischer Regierungssprecher, Evangelos Antonaros, räumte auch offen gegenüber der „Welt“ ein, dass man Flüchtlinge, die sich in der Türkei befänden, nicht ermutigen wolle, zu versuchen, nach Griechenland zu kommen.

Dass die Türkei der Nachbar an der Außengrenze ist und nicht Libyen oder ein anderer kriegsgeschüttelter Staat ohne flächendeckende Regierungsgewalt, entschärft die Situation immerhin. Die türkischen Flüchtlingslager, in denen seit Beginn des Syrienkrieges bis zu vier Millionen Menschen leben, bieten verhältnismäßig intakte Lebensverhältnisse, die Menschen haben eigene Wohncontainer, ein Mindestmaß an Platz und Privatsphäre, es gibt Ärzte, Märkte, Bildungseinrichtungen und Freizeitangebote in den Lagern, Flüchtlinge haben leichteren Zugang zum Arbeitsmarkt.

Griechenland will vor allem Asyl-Experten

Die Bereitschaft, dies gegen Lager wie Moria zu tauschen, ist entsprechend gering. Durch Signale der Großzügigkeit an der falschen Stelle würde man möglicherweise Begehrlichkeiten wecken, die man auch ruhend halten könne. Antonaros dazu:

„Die Hinhaltetaktik von Griechenland und der EU hat bisher dazu geführt, dass die eher in der Türkei geblieben sind, wo sie größtenteils Arbeit gefunden haben und so ihre Familien mit etwas Geld unterstützen können.“

Außerdem wirft der frühere Regierungssprecher den deutschen Aufnahmewilligen vor, mit ihrem Ansinnen Praxisferne zu offenbaren:
„Wie soll das denn geregelt werden, dass nur ein Teil der Flüchtlinge evakuiert wird? Wie wird ausgewählt, wer die Insel verlassen darf? Das führt unweigerlich zu Konflikten vor Ort, denn die Menschen harren dort zum Teil seit über zehn Monaten aus.“

Wer Griechenland helfen wolle, solle Experten schicken, die in der Lage seien, die Bearbeitung und Entscheidung bei Asylanträgen zu strukturieren und zu beschleunigen. Es fehle in Griechenland an effizienter Organisation und ausgebildetem Personal mit den entsprechenden Fremdsprachenkenntnissen. Hier sei eine europäische Solidarität möglich und würde tatsächlich helfen.



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