„Moralischer Bankrott“: Bundesregierung hält sich bei türkischer Besetzung von Kurdengebieten bedeckt
Die Bundesregierung hält sich bei der Bewertung der türkischen Besetzung von bislang insbesondere von Kurden besiedelten Gebieten im Nordwesten Syriens bedeckt. Das geht aus einer Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion hervor, die der Nachrichtenagentur AFP am Mittwoch in Berlin vorlag.
Darin vermeidet die Regierung eine Aussage dazu, ob es sich bei der Präsenz türkischer Streitkräfte in der Region um eine dauerhafte Besatzung handele.
So heißt es als Antwort auf die Frage, ob die türkische Militärpräsenz in der Region Afrin sowie in den Gebieten um die Ortschaften Dscharablus, Asas und Al-Bab „völkerrechtlich alle Kriterien einer militärischen Besatzung erfüllt“ und von einer „dauerhaften Besetzung“ dieser nordsyrischen Gebiete durch die Türkei auszugehen sei, lediglich: „Entscheidend für die Bundesregierung ist, dass in den genannten Regionen die Zivilbevölkerung geschützt und humanitäres Völkerrecht eingehalten wird.“
Weiter weist die Regierung darauf hin, dass ihr kein vollständiges Lagebild in den genannten Regionen vorliege. Auch wird auf eine Erklärung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vom Januar 2019 verwiesen, wonach die Türkei keine Besatzung in Syrien beabsichtige.
Zu Fragen, ob es – wie von der Türkei behauptet – zuvor kurdische Angriffe auf türkisches Gebiet gegeben habe, heißt es: „Kenntnisse zu konkreten möglichen Angriffskonstellationen liegen der Bundesregierung nicht vor.“
Betont wird von Seiten der Bundesregierung ein kollektives Selbstverteidigungsrecht der Türkei, was ein Vorgehen gegen die Dschihadistenorganisation Islamischer Staat (IS) angeht. Damit hatte die Regierung in Ankara das Vorgehen in den Gebieten Dscharablus, Asas und Al-Bab begründet. In Afrin waren dagegen ausschließlich kurdische Kräfte präsent, als türkische Truppen und mit ihnen verbündete vorwiegend islamistische Milizen dort Anfang 2018 einrückten.
Die Bundesregierung hat es auch auf wiederholte Nachfragen bislang stets vermieden, diesen Einmarsch völkerrechtlich zu bewerten. In einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages vom Dezember heißt es dagegen: „Bei Lichte betrachtet erfüllt die türkische Militärpräsenz in der nordsyrischen Region Afrin sowie in der Region um Asas, al-Bab und Dscharablus im Norden Syriens völkerrechtlich alle Kriterien einer militärischen Besatzung.“
Auch ein türkisches Selbstverteidigungsrecht wird von den Experten in diesem Gutachten mit Blick auf Afrin ausdrücklich verneint, solange es von dort keine Angriffe auf die Türkei gab. In einem weiteren Gutachten hatte der Wissenschaftliche Dienst im März 2018 auch Zweifel an der Verhältnismäßigkeit des militärischen Vorgehens der Türkei geäußert. Von Seiten der Bundesregierung hieß es: „Die Bundesregierung ermutigt die türkische Regierung, ihre berechtigten Sicherheitsinteressen primär auf politischem und nicht auf militärischem Weg durchzusetzen.“
Linken-Fraktionsvize Sevim Dagdelen nannte es „einen schäbigen Kotau vor Erdogan“, dass „die Bundesregierung die inzwischen dauerhafte Besatzung im Norden Syriens noch immer nicht als Völkerrechtsbruch wertet“. Noch schlimmer sei es, dass die deutsche Regierung auch „die Massenvertreibung von Kurden, Jesiden und Christen“ aus den türkisch besetzten Gebieten leugne. Dies sei „ein moralischer Bankrott“. (afp)
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