Michail Gorbatschow: Der Mann, der die Welt veränderte
Die Welt trauert um einen großen Politiker und Versöhner: Der russische Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow, einer der Väter der deutschen Einheit, ist tot. Er starb am Dienstagabend im Alter von 91 Jahren in Moskau. „Heute Abend ist nach schwerer und langer Krankheit Michail Sergejewitsch Gorbatschow gestorben“, teilte das Zentrale klinische Krankenhaus (ZKB) der russischen Hauptstadt mit.
In den letzten Jahren war Gorbatschow – von den Deutschen gern „Gorbi“ genannt – vor allem noch als Buchautor aktiv und meldete sich zu aktuellen Themen wie im Ukraine-Konflikt zu Wort. Nach Angaben des früheren Chefredakteurs von Echo Moskaus, Alexej Wenediktow, kritisierte Gorbatschow ihm gegenüber den russischen Angriffskrieg gegen das Nachbarland scharf. Offiziell äußerte er sich zu dem Zeitpunkt allerdings schon nicht mehr. In den Jahren zuvor hatte Gorbatschow aber auch beklagt, dass es nach der maßgeblich von Moskau unterstützten deutschen Einheit heute wieder Feindbilder wie zu Zeiten des Kalten Krieges gebe. Er sah auch eine Entfremdung zwischen Deutschen und Russen.
Gegen Sanktionen im Ukraine-Konflikt
In seinem letzten Buch „Was jetzt auf dem Spiel steht“ kritisierte er ein „Triumphgehabe“ des Westens. „Gorbi“ war enttäuscht, dass die Deutschen mit der EU und den USA im Ukraine-Konflikt eine Politik der Sanktionen gegen Russland fahren. „Das erklärte Ziel ist es, Russland zu bestrafen.“ Die Strafmaßnahmen für die russische Annexion der ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim von 2014 wollte er ebenso wenig einfach hinnehmen wie der Kreml. „Denn die Sanktionen haben nur eine einzige Wirkung: Die gegenseitige Entfremdung nimmt zu.“
Bei aller Schaffenskraft in den letzten Jahren mit vielen Interviews musste Gorbatschow schwere gesundheitliche Probleme einräumen. Immer wieder kam er ins Krankenhaus. Seine letzte Ruhe finden soll „Gorbi“ auf dem Neujungfrauenfriedhof in Moskau – für prominente Russen – neben seiner Frau Raissa. Ihren frühen Tod bezeichnete er stets als schweren persönlichen Schlag. Raissa starb 1999 in einer Klinik in Münster an Krebs.
Seinen Platz in der Geschichte hatte sich Gorbatschow schon Ende der 1980er Jahre gesichert. Mit seiner Politik von Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) schaffte er die Voraussetzung für das Ende des Kalten Krieges zwischen Ost und West und auch für den Fall der Berliner Mauer 1989. Bei den 30-Jahr-Feiern 2019 fehlte er aus gesundheitlichen Gründen.
Steinmeier: Dank für „mutige und menschlichen Entscheidungen“
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dankte ihm aber in einem Brief. „Wir werden nicht vergessen, dass das Wunder der friedlichen Wiedervereinigung meines Landes und das Ende der Teilung Europas nicht möglich gewesen wäre ohne die mutigen und menschlichen Entscheidungen, die Sie damals persönlich getroffen haben“, hieß es darin.
Die damals auch von DDR-Bürgern glühend aufgenommene neue Linie Moskaus gilt bis heute als Durchbruch zu Freiheit und Demokratie. Die damalige Kanzlerin Angela Merkel (CDU) lobte Gorbatschow zu dessen 80. Geburtstag als weitsichtige Persönlichkeit, die die friedliche Revolution mit ermöglicht habe. 1990 erhielt er dafür den Friedensnobelpreis.
Bis heute steht sein Name zudem für eine historische atomare Abrüstung, die er mit US-Präsident Ronald Reagan auf den Weg gebracht hatte. Vor seinem Tod musste „Gorbi“ aber noch mit ansehen, wie ein Abrüstungsvertrag nach dem anderen endete. Er warnte vor einem neuen Rüstungswettlauf: „Die Gefahr einer Militarisierung von Weltraum und Cyberspace ist real und in ihren möglichen Folgen katastrophal.“
Einst wollte der damalige Kremlchef mit seinen Reformen noch den Kommunismus modernisieren – am Ende leitete er selbst den Zerfall der Supermacht Sowjetunion ein, das Aus des kommunistischen Machtimperiums. Viele seiner Mitbürger nahmen ihm das übel. In ihren Augen war Gorbatschow ein führungsschwacher Politiker ohne Machtinstinkt, der „Totengräber der Sowjetunion“. Er habe das Land mit politischen Fehlern in Chaos, Hunger und Armut gestürzt, hieß es.
In einer Bilanz meinte der frühere Staats- und Parteichef einmal, die sowjetische Gesellschaft sei unreif gewesen für massive Reformen. Doch musste Gorbatschow selbst mit Herausforderungen kämpfen, denen er nicht gewachsen war. Zu seinen schwersten Momenten gehörte die Explosion eines Reaktors im Atomkraftwerk von Tschernobyl 1986. Sie führte nicht nur zur größten Atomkatastrophe in der zivilen Nutzung der Nuklearenergie mit tödlichen Folgen radioaktiver Verstrahlung. Der Super-Gau steht auch als Symbol für den Anfang vom Ende der Sowjetunion.
Idealist bis zum Schluss
Trotz oft breiter Ablehnung in der Heimat blieb Gorbatschow seinen Idealen treu. Wiederholt prangerte er die heutige Kremlpartei Geeintes Russland als „schlechte Kopie der Kommunistischen Partei der Sowjetunion“ an. Die Verfassung, die Gerichte, das Parlament – alles sei „Imitation von Demokratie“. Präsident Wladimir Putin habe seine Macht so zementiert, dass anderen politischen Kräften keine Luft zum Atmen bleibe, meinte er.
Vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise kritisierte Gorbatschow nicht zuletzt den Westen scharf. Dieser Konflikt habe eine „globale Unordnung“ mit internationaler Kriegsgefahr geschaffen – und Russland sei nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht als Partner behandelt worden. Die USA bezeichnete er sogar als „Seuche der Welt“. Als einen Verrat des Westens an den Zugeständnissen an Moskau bei der deutschen Wiedervereinigung empfand er stets die Osterweiterung der Nato.
Innenpolitisch drängte der Autor vieler Bücher und Artikel auf Reformen. „Wir brauchen Demokratie. Ohne die wird es keine Modernisierung geben“, sagte Gorbatschow oft in seiner markanten südrussischen Mundart. Für ein solches Russland setzt sich die von ihm gegründete Stiftung in Moskau ein, die etwa ein Museum zur Wendezeit im Ostblock beherbergt. Auch die von ihm mit herausgegebene kremlkritische Zeitung „Nowaja Gaseta“ kämpft in einem zunehmend repressiven Klima in Russland um die Freiheit des Wortes.
Politologin würdigt unschätzbare historische Leistung
Die Kommentatoren des Blatts sahen den am 2. März 1931 in Priwolnoje (Region Stawropol) im Nordkaukasus geborenen Gorbatschow als Propheten, der im eigenen Land nichts zähle, der unverstanden und allein sei. Dass er aber den „Sowjetbürger in sich selbst zerstörte“, ein totalitäres System demontierte und gleichzeitig mit dem Aufbau einer Demokratie begann, sei eine unschätzbare historische Leistung, schrieb die Politologin Lilija Schewzowa einmal.
Bis Gorbatschow am 11. März 1985 zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) gewählt wurde, hatten sich Kremlherrscher meist bis zum Tod an die Macht geklammert. Er und seine Frau Raissa gaben der Politik der kommunistischen Apparatschiks erstmals überhaupt auch ein menschliches Gesicht. Ohne Blutvergießen ließ er als Führer des größten Landes der Erde nicht zuletzt die in ein Bündnis mit der UdSSR gezwungenen Ostblock-Länder Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei sowie andere los.
Als die Sowjetunion mit den 15 Mitgliedsstaaten zerfiel und viele Völker ihre Unabhängigkeit erlangten, war das 1991 nach einem Putschversuch in Moskau und der Machtergreifung von Boris Jelzin (1931-2007) schließlich auch sein Ende. „Gorbatschow hatte kein Glück mit uns. Aber wir hatten Glück mit ihm. Das ist die Wahrheit, die wir erst noch lernen müssen“, meinte Schewzowa. (dpa)
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