Merkel emotional und überfordert: «Dann ist das nicht mein Land»
Es hat sich etwas angestaut in der Kanzlerin. Mittwoch, früher Nachmittag im Kanzleramt. Werner Faymann steht neben Angela Merkel. Österreichs Kanzler ist ein Sozialdemokrat. Die CDU-Chefin aber versteht sich gut mit ihm. Sie duzen sich.
Gemeinsam fiel vor zehn Tagen die Entscheidung, dass beide Länder ihre Grenzen für Tausende Ungarn-Flüchtlinge öffneten: „Ich bin Dir sehr dankbar, dass Du bei dieser Entscheidung nicht zögerlich warst“, sagt Faymann. Was aber folgte, ist bekannt. Die Notbremse. An den Grenzen wird wieder kontrolliert. Europa ist zerrissen.
Seitdem hat der Druck auf Merkel fast stündlich zugenommen. Nicht nur in den Medien. Sondern gerade in den eigenen Reihen. Angeführt von der CSU wird Merkels Nimbus infrage gestellt, eine Herausforderung stets vom Ende her zu denken. Hat die Kanzlerin die Tragweite ihrer Entscheidung vom 5. September nicht überblickt? Hat sie mit den Selfies, die dankbare Syrer mit ihren Handys beim Besuch der Kanzlerin etwa in der Berliner Außenstelle des Flüchtlingsbundesamtes machten, den großen Run auf Deutschland erst so richtig befeuert?
Merkel emotional und überfordert
Als Merkel in der Pressekonferenz mit Faymann, nachdem beide in höchster Not einen EU-Sondergipfel beantragt haben, von einem Journalisten diese Punkte unter die Nase gerieben bekommt, reagiert sie emotional. Und trotzig. Die Bilder, die um die Welt gingen, seien nicht die Bilder von ihrem Besuch in Heidenau gewesen: „Da gab’s nämlich gar keine Fotografen dabei. (…) Sondern die Bilder, die um die Welt gingen, waren die Bürgerinnen und Bürger, die am Morgen nach dieser Entscheidung die Menschen in München und anderswo am Bahnhof empfangen haben“, antwortet Merkel. „Da hat die Welt gesagt, das ist aber eine schöne Geste. Und das kam aus dem Herzen der Menschen.“
Schon das wären für die oft so nüchtern und auf Kritik meist verschwurbelt sprechende Merkel große, klare Worte gewesen. Doch der Kanzlerin ist es ein Bedürfnis, ihren Kritikern deutlicher die Grenzen aufzuzeigen: „Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Das sitzt.
Aber reicht das, um einen Horst Seehofer zu beeindrucken? Der CSU-Chef lässt sich dafür feiern, die vorübergehende Schließung der Grenzen nach Merkels Schleusenöffnung sei letztlich sein Werk gewesen.
Wie es nun weiter geht, darüber wollte Merkel dann am Abend im Kanzleramt mit Seehofer und den anderen Ministerpräsidenten beraten. Sechs Milliarden Euro hat die Koalition bislang auf den Tisch gelegt, davon die Hälfte für die Länder. Die wollen mehr. Vor allem auch für das laufende Jahr, und nicht erst 2016.
Kommunen brauchen mehr Geld
Bei einer Konferenz der SPD-Fraktion haben sich am Morgen rund 300 Kommunalvertreter im dritten Stock des Reichstages versammelt. Bürgermeister schütten dort ihr Herz aus, berichten von teils extremen Zuständen bei der Unterbringung. Eine Vertreterin der Stadt München ist den Tränen nahe.
„Alle rechnen damit, dass der Bund noch einmal nachlegt“, sagt ein Ländervertreter. Zumal Finanzminister Wolfgang Schäuble im Wort steht: Die Bewältigung der Flüchtlingskrise habe oberste Priorität. Was die Erwartungen schon mal beflügelt. Für dieses Jahr sollten zwei statt einer Milliarde vom Bund fließen, fordern Länder. 2016 sollten Länder und Kommunen sechs statt drei Milliarden vom Bund erhalten – neben den drei Milliarden, die Schäuble in seinem Etat noch mobilisieren will.
Das Kosten-Gefeilsche zwischen Bund, Ländern und Kommunen sollen bis zum eigentlichen Flüchtlingsgipfel am 24. September geklärt werden. Dann soll auch feststehen, wie sich der Bund künftig dauerhaft an den steigenden Kosten beteiligt. Der Bund hatte zugesagt, sich dauerhaft und dynamisch an den Flüchtlingskosten zu beteiligen. Wie, ist bisher offen. Das könnten die Gesundheitskosten sein, Aufwendungen für die Erstaufnahme oder die Übernahme der Pro-Kopf-Pauschale. Auch von einem Sonderfonds ist die Rede.
Zuletzt waren Gesamtkosten für Bund, Länder und Kommunen von etwa zehn Milliarden Euro geschätzt worden – was eher die Untergrenze sein dürfte. Zumal dafür 800 000 Flüchtlinge unterstellt worden waren, die in diesem Jahr in Deutschland erwartet werden. Inzwischen geht Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) von bis zu einer Million aus. So könnten zwischen 12 Milliarden und 14 Milliarden Euro zusammenkommen.
Die Kosten hängen letztlich auch davon ab, wir rasch Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden können. Die zuständige Ministerin Andrea Nahles (SPD) dämpfte schon mal die Erwartungen: Nicht einmal jeder Zehnte bringe die Voraussetzungen mit, um direkt in Job oder Ausbildung vermittelt zu werden. (dpa)
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