Massaker an Alawiten erschüttern Syrien – Rückführungen werden unwahrscheinlicher

Nach dem größten Gewaltausbruch in Syrien seit dem Sturz des Regimes unter Baschar al-Assad hat die Übergangsregierung eine Untersuchung mutmaßlicher Massaker im Westen des Landes angekündigt. In einer Erklärung hat nun auch der UN-Hochkommissar für Menschenrechte seine Besorgnis über die Entwicklung zum Ausdruck gebracht.
Ein Sprecher des Hochkommissariats, Thameen Al-Kheetan, sprach von einem „erschreckenden Ausmaß der Gewalt in der syrischen Küstenregion“. Seit dem 6. März häufen sich demnach die entsprechenden Berichte. Das Hochkommissariat (OHCHR) habe bis dato die Tötung von 111 Zivilisten dokumentiert. Der Überprüfungsprozess sei noch nicht abgeschlossen, die tatsächliche Zahl der getöteten Personen dürfte noch höher liegen.
Private Beobachtungsstelle beziffert Todesopfer in Syrien auf mindestens 973
Die Mitteilung des Hochkommissars bestätigt die Annahme, dass die Gewalttaten gezielt gegen Angehörige der alawitischen Bevölkerungsgruppe gerichtet waren. Die meisten davon ereigneten sich in den westsyrischen Gouvernements Tartus, Latakia und Hama. Und sie scheinen, so der Sprecher, „auf konfessioneller Grundlage durchgeführt worden zu sein“.
Das OHCHR schildert, dass es sich in vielen der dokumentierten Fälle um „Hinrichtungen im Schnellverfahren“ gehandelt habe. Die Übergangsregierung hatte in der Vorwoche von einer Militäraktion gegen bewaffnete Anhänger des gestürzten Präsidenten Assad gesprochen. Mittlerweile hat Interimspräsident Ahmed al-Scharaa diese für beendet erklärt.
Tatsächlich seien zu einem erheblichen Teil Zivilisten, darunter ganze Familien, getötet worden, heißt es in dem Bericht. Dieser deckt sich vielfach mit den Angaben der „Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ (SOHR). Diese sprach aber bereits am Montag, 10. März, von mindestens 973 bestätigten Todesopfern.
Bewaffnete Gruppen mit Nähe zum alten und neuen Regime unter Verdacht
Den UNO-Angaben zufolge haben noch nicht identifizierte Kämpfer vor allem alawitische Städte und Dörfer ins Visier genommen. Zeugen berichten davon, dass diese Bewohner gefragt hätten, ob diese Alawiten oder Sunniten seien. Die einen hätten sie anschließend getötet und die anderen verschont. In einigen Fällen hätten sie Männer vor den Augen ihrer Familien erschossen.
Zeitlicher Schwerpunkt der Gewaltexzesse waren der 6. und 7. März. Wer für die Bluttaten verantwortlich war, ist noch ungeklärt. Im Zusammenhang mit Überfällen auf Krankenhäuser in Latakia, Tartus und Baniyas war in Berichten die Rede von Anhängern des früheren Regimes. Es soll dabei zu Todesopfern unter Patienten, Ärzten und Medizinstudenten gekommen sein. Gebäude seien bei Zusammenstößen mit Sicherheitskräften der Übergangsregierung beschädigt worden.
An den Übergriffen in den Dörfern waren Berichten zufolge vor allem Angehörige bewaffneter Gruppen aus dem Umfeld der neuen Machthaber beteiligt. Der Clan des früheren Herrschers Assad gehörte der Minderheit der Alawiten an, die in Syrien etwa 12 Prozent der Bevölkerung stellen. Mit 74 Prozent sind sunnitische Muslime die größte Bevölkerungsgruppe im Land. Tausende Angehörige der alawitischen Minderheit hatten auf dem russischen Militärstützpunkt Hmeimim Zuflucht gesucht.
Dschihadistische Wurzeln der Übergangsregierung unter Ahmed al-Scharaa
Anfang Dezember des Vorjahres hatten Einheiten unter Führung von Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) weitgehend widerstandslos die Hauptstadt Damaskus eingenommen. Wenig später wurde ihr Anführer Ahmed al-Scharaa zum Übergangspräsidenten ernannt. Dieser stammt eigenen Angaben zufolge gebürtig aus Riad. Wie sein früherer „Kampfname“ al-Dschaulani verraten soll, liegen seine familiären Wurzeln in Syrien.
Im Irak gehörte er seit der US-Invasion im Irak zu den engen Gefolgsleuten des 2006 eliminierten Al-Kaida-Führers Abu Musab al-Zarqawi. Über fünf Jahre verbrachte er eigenen Angaben zufolge in US-Militärgefängnissen. Mit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien 2011 wurde er dort aktiv. Er gründete den Al-Kaida-Ableger Al-Nusra-Front.
Die dschihadistische Formation wurde zu einer der bedeutendsten Größen unter radikalen sunnitischen Verbänden. In Idlib stieg sie unter dem neuen Namen HTS zur führenden Kraft unter diesen auf und sammelte erste Regierungserfahrung. Nach der Machtübernahme kündigte Al an, eine inklusive Ordnung aufzubauen, in der alle Bevölkerungsgruppen gleichberechtigt seien.
„Hassreden und Fehlinformationen“: UNO befürchtet weitere Eskalationen in Syrien
Die jüngste Gewaltwelle hat jedoch das Misstrauen in die neue Führung unter Minderheiten erheblich gesteigert. In der Stellungnahme der OHCHR ist auch die Rede von „weitverbreiteten Plünderungen von Häusern und Geschäften“. Diese hätten „die chaotische Situation vor Ort offenbar ausgenutzt“. Obwohl die Übergangsregierung am Montag das Ende ihrer „Sicherheitsoperation“ in den Küstengebieten angekündigt hatte, gebe es weiterhin „gelegentliche Zusammenstöße“.
Die UNO-Einrichtung gibt an, Übergriffe durch Berichte und Bildmaterial dokumentiert zu haben. Sie bringt auch ihre Besorgnis zum Ausdruck, dass „zunehmende Hassreden im Internet und offline“ sowie Verbreitung von Fehlinformationen die Spannungen weiter anheizten.
Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, begrüßte die Ankündigung der Übergangsregierung, eine unabhängige Untersuchung der Vorgänge einzuleiten. Er forderte, dafür zu sorgen, dass die Ermittlungen „unverzüglich, gründlich, unabhängig und unparteiisch“ durchgeführt würden. Alle Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Auch der Prozess der Überprüfung und Integration bewaffneter Gruppen in die militärischen Strukturen Syriens müsse darauf ausgerichtet sein, eine Wiederholung solcher Ereignisse zu verhindern.
Alevitische Organisationen solidarisieren sich mit syrischen Alawiten
Wie das „Deutsch-Türkische Journal“ (DTJ) berichtet, haben mehrere Organisationen für das kommende Wochenende zu Mahnwachen und Kundgebungen für die Opfer der Übergriffe aufgerufen. Auch alevitische Gemeinden haben sich mit den Angehörigen der alawitischen Gemeinschaft in Syrien solidarisiert. Trotz der Namensähnlichkeit und der gemeinsamen Wurzeln im schiitischen Islam unterschieden sich beide unter anderem in den Ritualen, in der Liturgiesprache und in der geografischen Verbreitung.
Der Vorsitzende der Organisation Human Rights Defenders, Prof. Dr. Hüseyin Demir, verurteilte die Massaker „aufs Schärfste“ und rief alle Beteiligten zu Achtung der Menschenrechte auf. Demir wies auf die Folgen hin, die der Bürgerkrieg bereits jetzt gefordert habe. Mehr als sechs Millionen Menschen aus Syrien seien seit dessen Beginn ins Ausland geflohen. Eine ähnlich große Zahl seien Vertriebene im eigenen Land.
Ein Neuanfang könne aber nur gelingen, wenn „die Rechte aller ethnischen und religiösen Gruppen im Land respektiert werden“, äußert der Vorsitzende der Organisation, die der Gülen-Bewegung nahesteht. Die neuerlichen Gewaltexzesse in Syrien könnten auch Bestrebungen unter europäischen Spitzenpolitikern zuwiderlaufen, Geflüchtete aus dem Bürgerkriegsland in ihr Herkunftsland zurückzuführen.
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