„Macht euch keine Sorgen“: Nawalnys letzte Wochen in der Strafkolonie am Polarkreis
Die letzten Bilder des verstorbenen Kreml-Kritikers Alexej Nawalny zeigen den 47-Jährigen scherzend in einer Gerichtsverhandlung.
Im Wortwechsel über weitere Geldstrafen sagt er lachend zu einem Richter: „Euer Ehren, ich werde Ihnen meine persönliche Kontonummer schicken, damit Sie mir mit Ihrem riesigen Gehalt als Bundesrichter Geld schicken können.“ Ihm gehe so langsam das Geld aus, sagt der prominente Oppositionspolitiker in den Filmaufnahmen vom 15. Februar. Einen Tag später ist Nawalny tot.
Doku „Gebt nicht auf“
„Gebt nicht auf“: Dieses Vermächtnis gab Alexej Nawalny dem Publikum in dem Dokumentarfilm des kanadischen Regisseurs Daniel Roher mit. „Meine Botschaft für den Fall, dass ich umgebracht werde, ist sehr einfach: Gebt nicht auf“, sagt der prominente Oppositionelle am Ende des Oscar-prämierten Films, der nur „Nawalny“ heißt.
Als die Dokumentation 2022 herauskam, war Nawalny bereits am Flughafen in Moskau verhaftet worden – direkt nach seiner Rückkehr aus Deutschland am 17. Januar 2021. In der Berliner Universitätsklinik Charité hatten ihn die Ärzte damals nach einer Vergiftung mit Nowitschok, einem Nervengift aus der Sowjetzeit, behandelt und wiederhergestellt.
Während des „Extremismus“-Prozesses gegen ihn Anfang August 2023 bezeichnete Nawalny den russischen Angriff auf die Ukraine als „dümmsten und sinnlosesten Krieg des 21. Jahrhunderts“. Zwei Monate zuvor hatte er geschrieben: „Ich weiß, dass die Dunkelheit verschwinden wird, dass wir gewinnen werden, dass Russland ein friedliches, helles und glückliches Land werden wird.“
In dem Dokumentarfilm wiederholt Nawalny mehrfach den Appell an seine Landsleute, nicht aufzugeben, und denkt über seinen Tod nach: „Wenn Sie beschließen, mich zu töten, dann heißt das, dass wir im Moment unglaublich stark sind. Sonst täten Sie das nicht. Diese Stärke müssen wir nutzen.“
Nawalny fuhr fort: „Für den Triumph des Bösen braucht es nur eines, nämlich die Tatenlosigkeit der guten Menschen. Seid also nicht tatenlos.“
Die letzten Wochen
Durch zahlreiche Nachrichten, die über Nawalnys Anwälte in seinem Namen in Onlinenetzwerken verbreitet wurden, gewährte er einen Einblick in seinen Alltag in der sibirischen Strafkolonie Nummer Drei in Charp am Polarkreis, wo er die letzten Wochen seines Lebens verbrachte. Der Ton ist humorvoll, sarkastisch, seine Nachrichten zeugen von Kampfgeist – und der großen Liebe zu seiner Frau Julia.
Nachdem er wochenlang verschwunden war, meldete sich Nawalny zum ersten Mal am 26. Dezember aus der Strafkolonie knapp 2000 Kilometer von der russischen Hauptstadt Moskau entfernt. „Ich bin euer neues Väterchen Frost“, schrieb er darin. Er sei mit der traditionellen russischen Winterbekleidung ausgestattet, habe einen Tulup (Mantel), eine Uschanka (Mütze) „und bald auch Walenki“ (Stiefel aus Fell), berichtete der Oppositionspolitiker. Beim Blick aus dem Fenster sei es „erst Nacht, dann Abend und dann wieder Nacht“.
Von der knapp dreiwöchigen Reise aus seinem früheren Gefängnis in der zentralen Region Wladimir in der Nähe von Moskau an den Polarkreis sei er müde, schrieb Nawalny. „Macht euch keine Sorgen um mich, es ist alles in Ordnung. Ich bin so froh, dass ich endlich hier angekommen bin.“ Nach seiner Rückkehr 2021 aus Deutschland war Nawalny in mehreren Prozessen zu langen Haftstrafen verurteilt worden.
Elf Schritte und ein Spaziergang
Wenige Wochen nach seiner Verlegung an den Polarkreis berichtete er über weitere Details seiner neuen Haftbedingungen. Seine Zelle messe „elf Schritte von Wand zu Wand“, morgens um 06:30 Uhr dürfe er im Dunkeln einen Spaziergang machen. „Ich habe mir vorgenommen, bei jedem Wetter nach draußen zu gehen“, schrieb der Kreml-Kritiker.
„Es war noch nie kälter als minus 32 Grad Celsius. Selbst bei solchen Temperaturen kann man mehr als eine halbe Stunde laufen – aber nur, wenn man die Zeit hat, sich eine Nase, Ohren und Finger nachwachsen zu lassen“, hieß es in einem Beitrag vom 9. Januar. „Heute bin ich spazieren gegangen, habe gefroren und an Leonardo DiCaprio und seinen Trick mit dem toten Pferd in ‚Der Rückkehrer‘ gedacht“, schrieb er weiter. In dem Film kriecht Schauspieler DiCaprio in einen noch warmen Tierkadaver, um nicht zu erfrieren.
Auch über seine erneuten Aufenthalte in Isolationshaft berichtete der Kreml-Kritiker. „Die Vorstellung, dass Putin sich so sehr darüber freut, dass er mich in eine Kaserne im hohen Norden gesteckt hat, und dass sie dann aufhören, mich in Einzelhaft zu stecken, war … naiv“, schrieb der 47-Jährige. Während seiner Haftzeit verbrachte Nawalny mehr als 300 Tage in Isolationshaft – oftmals wegen geringfügiger Verstöße gegen das Gefängnisprotokoll.
Regelmäßig machte sich Nawalny in seinen Beiträgen in den Onlinenetzwerken auch über die Routinen im Gefängnis lustig. Am 22. Januar berichtete er, dass die Gefangenen jeden Morgen um 05:00 Uhr mit der russischen Nationalhymne geweckt würden. Das zweitwichtigste Lied sei „Ja Russkij“ (deutsch: Ich bin ein Russe) des kremltreuen Künstlers Shaman.
In seinem letzten online veröffentlichten Beitrag wandte sich Nawalny an seine Frau Julia. Am Valentinstag war in Onlinenetzwerken zu lesen: „Liebling, mit uns ist es wie in einem Song: Zwischen uns liegen Städte, die Lichter von Flughäfen, Schneestürme und Tausende von Kilometern. Aber ich fühle, dass Du mir in jeder Sekunde nahe bist, und ich liebe Dich immer mehr.“ (afp)
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