Libyen: Westliche Politik vor Scherbenhaufen – Sohn von Gaddafi gewinnt an Rückhalt

Bahnt sich in Libyen der nächste Super-GAU für die westliche Außenpolitik nach 1989 an? Saif al-Islam Gaddafi, der Sohn des 2011 gestürzten Staatschefs, gewinnt in der Bevölkerung an Rückhalt. Der Atlantic Council zeigt sich besorgt.
Titelbild
Mohamed al-Haddad, Chef des Generalstabs der libyschen Armee, bei einer Munitionsübung in Tarhuna am 6. März 2023.Foto: MAHMUD TURKIA/AFP via Getty Images
Von 28. Dezember 2023

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Im Atlantic Council ist man in Sorge ob einer zunehmenden Popularität des 51-jährigen Saif al-Islam Gaddafi in Libyen. Der Sohn des langjährigen Machthabers Muammar al-Gaddafi wird vom Internationalen Strafgerichtshof (ICC) wegen behaupteter Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesucht. In seiner Heimat hingegen erfreut er sich zunehmender Beliebtheit. Sollte es dort zu freien Wahlen kommen, könnte er damit rechnen, diese zu gewinnen.

Teilweise beanspruchten in Libyen drei Regierungen gleichzeitig die Macht

Aufständische hatten unter dem Schutz der NATO 2011 den langjährigen Machthaber aus dem Amt vertrieben und auf der Flucht getötet. Eine Miliz nahm Saif gefangen und verurteilte ihn zum Tode. Ihm wurde vorgeworfen, für die Verfolgung und Tötung von Zivilisten während des Aufstandes verantwortlich zu sein.

Die Zeit begann jedoch für den Sohn des langjährigen Machthabers zu arbeiten, der gegen Ende seiner Amtszeit seine Beziehungen zum Westen weitgehend normalisiert hatte. Libyen versank schon bald in einem blutigen Bürgerkrieg, wobei teilweise drei verschiedene Regierungen nebeneinander Legitimität beanspruchten. Neben der von der UNO anerkannten Regierung in Tripolis hatten Milizen, die der Muslimbruderschaft nahestanden, in Bengasi phasenweise eine eigene Autorität beansprucht.

Saif al-Islam Gaddafi kam zupass, dass die Miliz, die ihn gefangen hielt, im Osten des Landes operierte. Dort hatte der von Russland, Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützte General Khalifa Haftar die Macht übernommen.

Gaddafi 2017 entlassen – Haftar sprach vollständige Amnestie aus

Im Jahr 2017 ließ man Gaddafi frei und Haftar gewährte ihm eine „vollständige Amnestie“. Zwei Jahre später versuchte der von Tobruk aus regierende General, auch Tripolis einzunehmen. Dabei griff er auch auf Söldner der russischen Wagner Group zurück.

Der Versuch scheiterte zwar, Haftar blieb jedoch im Osten des Landes der Machtfaktor. Während offiziell ein westliches Waffenembargo für Libyen galt, stand sogar Frankreich im Verdacht, den General insgeheim zu unterstützen.

Im Oktober 2020 kam es zur Vereinbarung eines Waffenstillstands – und der Bildung einer Übergangsregierung im Jahr 2021. Diese sollte bis Ende jenes Jahres Wahlen organisieren. Es waren zuletzt sogar schon Wahlzettel gedruckt, am Ende scheiterte die Durchführung jedoch an anhaltenden Differenzen mit Haftar. Bis heute wurden die Wahlen regelmäßig verschoben.

Korrupte Elite hat sich selbst ermächtigt – Libyer haben Hoffnung verloren

Der Grund dafür ist nicht nur, dass sich beide Machtzentren nicht auf ein gemeinsames Prozedere zur Durchführung einigen können. Vielmehr haben sich beide auf den Status quo eingestellt und ziehen daraus Vorteile. Politikforscherin Asma Khalifa erklärte gegenüber der englischsprachigen Epoch Times:

„Wir haben zwei Regierungen, von denen keine von den Libyern gewählt wurde. Beide sind das Ergebnis ständiger Irreführung durch korrupte Politiker, die nicht bereit sind, ihre Machtpositionen und den damit verbundenen Reichtum aufzugeben.“

Riccardo Fabiani, Projektleiter für Nordafrika bei der International Crisis Group, erklärt, die Mehrheit der Libyer hätte „die Hoffnung verloren“.

„Die Mehrheit der Libyer hat die Hoffnung verloren“, sagte Riccardo Fabiani, Projektleiter für Nordafrika bei der International Crisis Group. Die ehemalige UN-Sonderbeauftragte für Libyen, Stephanie Williams, sprach von einer „umverteilenden Kleptokratie“, die sich gebildet habe. Diese erhalte sich, indem sie ausreichend Menschen zufriedenstelle, um das System zu versorgen.

Moskau würde alles Machbare für Sieg von Gaddafi in die Wege leiten

Die Situation schaffe den „perfekten Nährboden“ für den Aufstieg einer neuen politischen Führungspersönlichkeit. Eine solche könnte Saif al-Islam Gaddafi darstellen – darüber sind sich die meisten Analysten einig. Zumal auch zahlreiche mächtige Clans und frühere Eliten dessen Vater stets verbunden waren.

Emadeddin Badi vom Atlantic Council in Washington bereitet dies Sorge, vor allem, weil damit auch ein Einflussgewinn Russlands am Mittelmeer einhergehen würde. Muammar al-Gaddafi galt ebenso wie andere nationalistische arabische Potentaten von Assad bis Saddam Hussein als enger Verbündeter der Sowjetunion. Heute hält General Haftar seine schützende Hand über dessen Sohn.

Badi geht davon aus, dass es „keine freien und fairen Wahlen“ in Libyen geben könne, solange Söldnertruppen wie Wagner im Land wären. Al-Jazeera habe zudem schon im April berichtet, dass Maxim Schugalei, ein bedeutender Influencer des Kreml in Afrika, sich mit dem Gaddafi-Sohn getroffen habe.

Aus dem Atlantic Council heißt es, Schugalei würde die Situation in Libyen beobachten und täglich nach Moskau berichten. Sollte es zu Präsidentenwahlen kommen, würde Russland Gaddafi unterstützen. Der Kreml erwarte sich im Fall eines Sieges die Zusicherung, bestehende Militärpräsenzen aufrechtzuerhalten. Für die NATO-Südflanke und den Westen insgesamt würde dies eine potenzielle Bedrohung bedeuten.

„Ende der Geschichte“ sollte auch in Libyen ankommen

Der sogenannte Arabische Frühling galt trotz sich bereits abzeichnender Probleme in Afghanistan und im Irak als Bestätigung für die in den 1990er-Jahren etablierte Doktrin des Demokratieexports. Dieser galt in den USA seit dem Ende des Kalten Krieges als Konsens unter beiden Parteien. Der liberale Interventionismus der Demokraten traf mit der Entschlossenheit neokonservativer Republikaner zusammen, „die Welt sicherer für die Demokratie“ zu machen.

Dazu gehörte auch die Option eines zivilen oder militärischen „Regime Change“, um Regierungen zu Fall zu bringen, die als geopolitisch unerwünscht oder unverlässlich galten. Erste Kriege oder zivile Umsturzversuche nach dem von Francis Fukuyama 1989 verkündeten „Ende der Geschichte“ endeten auch mit schnellen Siegen – wie 1991 im Golfkrieg oder 1999 im Kosovo. In Serbien und der Ukraine brachten sogenannte Farbrevolutionen prowestliche Führungen ans Ruder. Die westliche Ordnung schien in den 1990ern tatsächlich in der Welt alternativlos geworden zu sein.

In Europa wurde diese Politik anfangs mit einer gewissen Zögerlichkeit beäugt. Im Schatten der Amerikaner zu stehen, war insbesondere für das „alte Europa“, wie US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld es 2002 nannte, unbefriedigend. In Deutschland meldete die Schröder-Regierung Bedenken gegenüber dem sich abzeichnenden US-geführten Einmarsch im Irak an. Auch Frankreich zählte tendenziell zu den Skeptikern.

Spätestens Ende der 2000er – mit Barack Obama saß wieder ein liberaler Demokrat im Weißen Haus – fanden jedoch auch die Europäer ihren Gefallen an der Idee einer westlichen Hegemonialpolitik. Frankreich gehörte zu den glühendsten Befürwortern einer von der NATO durchgesetzten Flugverbotszone zugunsten Aufständischer in Libyen 2011.

Schwindender Einfluss des Westens in Afrika und dem Nahen Osten

Mittlerweile steht der Westen vor den Trümmern dieses Ansatzes. Der Irak ist politisch und konfessionell tief gespalten. In Syrien gibt es einen Waffenstillstand, der eine faktische Teilung des Landes zementiert. Die Taliban haben die weitestgehende Kontrolle über Afghanistan wiederhergestellt. Aus dem Putsch in der Ukraine ist ein regionaler Krieg geworden. Und in mehreren Staaten Afrikas haben Militärs die Macht an sich gerissen, die sich auf Distanz zum Westen befinden.

In Libyen hatte sich schon unmittelbar nach der Ermordung von Alt-Machthaber Muammar al-Gaddafi abgezeichnet, dass die Aufständischen keine westliche liberale Demokratie aufbauen würden. Eine solche besteht bis heute in keinem Land des sogenannten Arabischen Frühlings – lediglich in Marokko sind unblutige Machttransfers nach Wahlen die Regel.

Westliche Erwartungen haben sich nicht erfüllt

Neben Aufständischen, von denen viele der im Arabischen Frühling stark engagierten Muslimbruderschaft zuzurechnen waren, meldeten bald noch weitere lokale und regionale Interessensträger ihre Ansprüche an. Neben Russland gehören dazu beispielsweise Ägypten oder die Vereinigten Arabischen Emirate, die in General Haftar einen Verbündeten fanden. Dieser hat deren Vertrauen – und innenpolitisch jenes alter Gaddafi-treuer Militärs und Sicherheitskräfte.

Die Türkei unterstützt die von der UNO anerkannte Regierung ebenfalls nur deshalb, weil diese auf ein kooperatives Verhalten der Muslimbruderschaft angewiesen ist. Dazu kommen noch bewaffnete Gruppen und Milizen, die ihre eigenen Interessen verfolgen. Für Europa ist ein instabiles Libyen in mehrfacher Hinsicht nicht wünschenswert: Das Land fällt als potenzieller Ölversorger aus, es ist ein Ausgangspunkt für Flüchtlingsbewegungen – und potenziell auch ein Hinterland für Terroristen.

Der liberale Interventionismus der 1990er beruhte auf dem Gedanken, dass Institutionen wie die UNO oder die NATO zu Trägern einer regelbasierten liberalen Weltordnung werden könnten, deren universelle Werte globale Anerkennung fänden. Der vor allem von früheren Trotzkisten propagierte Neokonservatismus hingegen plante für eine Übergangsphase chaotische Verhältnisse ein, die nach der Zerschlagung alter Ordnungen Platz greifen würden.

Am Ende würden neue ökonomische Eliten die Freiheit für die Massen bringen können. Beide Einschätzungen erwiesen sich als verfehlt. Die Bevölkerungen in Ländern wie Libyen schätzten Stabilität, auch wenn diese mit Unzulänglichkeiten in der Regierungsführung verbunden war. Dieser Umstand nährt nun offenbar eine wachsende Sehnsucht nach den Verhältnissen in der Gaddafi-Ära.



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