Leidvolle Erinnerungen eines ehemaligen Arbeiters von Tschernobyl
Nikolai Vsisovich arbeitete vor 25 Jahren als Liquidator im Atomkraftwerk Tschernobyl nach der Explosion des Reaktorblocks Nummer 4. Er ist der letzte Überlebende von 18 Männern seines Teams. Aus Anlass der ungelösten Krise in Fukushima spricht Vsisovich jetzt darüber, was er als zu hohen Preis für die Atomkraft ansieht.
Die Katastrophe von Tschernobyl ereignete sich ungefähr 130 Kilometer entfernt von Kiew, der Hauptstadt der Ukraine. Der Unfall wurde damals auf Stufe 7, der höchsten Gefahrenstufe auf der internationalen Bewertungsskala, eingeordnet. Auch Fukushima wurde von der japanischen Atomaufsicht inzwischen auf Stufe 7 angehoben, nachdem es anfänglich auf Stufe 5 eingeordnet war.
Der 26. April 1986 schien wie ein ganz normaler Tag. „Ein paar Männer tranken Bier oder Soda und saßen vor ihren Häusern; Kinder spielten in den Höfen. Es war Samstag und ein sonniger Tag“, erzählt Vsisovich.
Das einzig Seltsame, wie er sagt, war, dass sich die Einwohner der Satellitenstadt Prypjat auch nachdem Leute in Spezialuniformen in die Stadt gekommen und die Radioaktivität gemessen hatten, weiterhin so verhielten, als wäre nichts geschehen.
Der Unfall war mitten in der Nacht passiert, kurz vor 1.30 Uhr. Während eines Systemtests gab es einen Stromstoß und alles geriet außer Kontrolle. Mehrere Explosionen im Block 4 folgten. Die Explosionen verursachten ein Feuer und eine hochradioatkive Wolke. Laut der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) war die Radioaktivität 400-mal höher als die der Atombombe von Hiroshima.
Kurz nachdem in Prypjat die Radioaktivität gemessen worden war und 36 Stunden nach dem Unfall begannen die Behörden, die Stadt mit ihren nahezu 50.000 Bewohnern zu evakuieren. Prypjat liegt nur vier Kilometer von Tschernobyl entfernt und wurde 1970 für die Arbeiter errichtet, als man mit dem Bau der dortigen Atomkraftanlage begann.
Die nachfolgenden Wochen und Monate wurden ungefähr 200.000 Menschen endgültig umgesiedelt. Vsisovich und weitere Mitarbeiter des Kraftwerkes wurden gebeten zu bleiben, weil keiner die Umstände besser kannte als sie. „Sogar die Oberen des Landes kamen zu uns und baten uns zu bleiben, obwohl wir eigentlich vom Kraftwerk weggebracht werden sollten, weil wir schon dem Maximum an Strahlung ausgesetzt waren“, erklärt er.
Die Belegschaft des Atomkraftwerkes arbeitete dann zusammen mit den Soldaten, die den gefährlichsten Job zu meistern hatten, die Reinigung des explodierten Reaktordaches. „Dafür wurden Soldaten aus der Armee eingesetzt und mit 1.000 Rubel Bonus bezahlt. Außerdem durften sie den Militärdienst für immer verlassen. Ich weiß es nicht, sie müssen wohl alle ein paar Jahre nach der Explosion gestorben sein“, vermutet Vsisovich.
Vsisovich erklärt, die Soldaten seien als „lebende Roboter“ benutzt worden, die das Dach zu reinigen hatten, weil mechanische Roboter aufgrund der hohen Strahlung schnell ihre Funktion verloren hätten. Der 31-jährige Vsisovich war ungefähr 150 Meter vom explodierten Reaktor im Einsatz, trug dabei eine simple Uniform und eine Gesichtsmaske. In den ersten Tagen der Reinigungsarbeiten befanden sich viele der Arbeiter in einer seltsamen Verfassung, die sie wach hielt. „Wir waren so euphorisch, dass wir nicht schlafen konnten – das hat uns dermaßen aufgeregt“, berichtet Vsisovich. Dann stellte er fest, dass seine Körpertemperatur auf 35 Grad abgesunken war. „Ich kam mir vor wie ein gesottener Krebs“, erinnert er sich. Als er dann nach einem Monat zur Erholung nach Hause kam, schlief er 20 Tage ununterbrochen, ohne einmal aus dem Bett zu steigen.
Vsisovich, heute 56, beschreibt eine ganze Litanei chronischer Leiden, die er durchmachte. Viele seiner Mitarbeiter hatten Herzbeschwerden oder Krebs – manche starben ganz plötzlich Jahre nach dem Desaster. „Ich bin der Einzige aus meinem Team, der noch am Leben ist“, sagt er.
Vsisovich glaubt, dass die Arbeiter in Fukushima ähnliche gesundheitliche Probleme bekommen werden. „Ich hab da keine Zweifel“, sagt er. Die Katastrophen in Tschernobyl und in Japan haben seine Ansicht über die Sicherheit von Atomkraft geändert. Er findet die Kosten zu hoch und setzt heute auf die Entwicklung alternativer Energiequellen. Die Öffnung des Atomkraftwerkes Tschernobyl und der Geisterstadt Prypjat für den Tourismus heißt er ebenfalls nicht für gut. Er glaubt, dass die Strahlung weiterhin zu hoch und der Sarkophag unter dem vierten Reaktor brüchig ist und voll von radioaktivem Staub.
Reisen nach Tschernobyl gibt es seit Februar 2011. Die Webseite sagt, sie wären sicher, folge man den Anweisungen der Reiseleiter und vermeide man „Kontakt mit Objekten, die leicht Strahlung absorbieren“. Besucher werden angewiesen, geschlossenes Schuhwerk zu tragen und Kleidung, die den ganzen Körper bedeckt.
In den 1990er-Jahren fing Vsisovich an, den Opfern von Tschernobyl zu helfen, indem er Wohltätigkeitsveranstaltungen organisierte. Außerdem arbeitet er an der Gründung eines internationalen Hilfswerkes für zukünftige Reaktorunfälle, solche wie Tschernobyl – oder jetzt Fukushima.
Artikel auf Englisch: Chernobyl Plant Worker Shares Painful Memories
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