Leben mit den Toten: Der Friedhof-Slum von Manila
Marilyn Regala steht vor einer alten Waschmaschine und räumt T-Shirts und Handtücher ein. An sich nichts Ungewöhnliches, wären da nicht die vielen pastellfarbenen Gräber. Denn diese „Waschküche“ steht auf einem Friedhof. Beim Blick nach oben auf das Wellblechdach fällt ein löchriger schwarzer Plastiksack ins Auge, aus dem Menschenknochen ragen.
Der Manila North Cemetery ist kein Ort für schwache Nerven: Hier – auf einem der größten und ältesten Friedhöfe der philippinischen Hauptstadt – leben rund 6.000 Menschen zwischen einer Million Toten.
Bewohner kümmern sich um die Gräber
Zweifellos handelt es sich um einen der befremdlichsten und gruseligsten Slums der Welt. Die Bewohner kümmern sich um die Gräber, halten sie instand, streichen sie gelegentlich – und dürfen im Gegenzug auf ihnen nächtigen und leben.
An Allerheiligen am 1. November und Allerseelen am 2. November hat der Friedhof Hochkonjunktur. „Undas“ werden die beiden Feiertage genannt, an denen die überwiegend katholischen Filipinos ihrer toten Angehörigen gedenken. Dann strömen Hunderttausende zu den frisch herausgeputzten Gräbern und Mausoleen.
Auch Marilyn (47) und ihre Familie haben tagelang die Grabstätte geputzt und hergerichtet, die sie ihr Zuhause nennen. Es handelt sich um eine Art Hütte, an deren hinterer Seite der himmelblaue Beton-Sarg thront. Darauf und daneben liegen Matratzen und Kissen.
Aus einer Ausbuchtung an der Kopfseite ragt ein Kamm. Ventilatoren surren und sorgen für Abkühlung von der Tropenhitze Südostasiens. Ein großer Grabstein liegt quer vor einem Loch und soll Ratten fernhalten. R.I.P. (kurz für „Rest in Peace“) steht auf der ausrangierten Marmorplatte. Das Ehepaar, der sie einst gewidmet wurde, ist schon seit Jahrzehnten tot.
„Wir kennen kein anderes Zuhause“
„Für uns ist das alles normal“, erzählt Marilyn, die wie viele andere schon seit ihrer Geburt auf dem North Cemetery lebt. „Ich wollte von hier weg, aber ich hatte kein Glück, also habe ich die Situation akzeptiert.“ Ihre Freundin Merci Silva stimmt ihr zu: „Wir wissen, dass es ungewöhnlich ist, dass Menschen unter Toten leben“, sagt sie.
Die Leute fragen uns oft, warum wir auf einem Friedhof leben. Aber wir wurden hier geboren und kennen kein anderes Zuhause.“
Marilyn ist mittlerweile nicht nur vierfache Mutter, sondern auch vierfache Oma. Alle Kinder und Enkel leben auf dem Friedhof – wie auch ihre Mutter Erlinda Lopez. Die 74-Jährige im gelben Micky-Maus-Shirt wirkt zerbrechlich, sie spricht leise.
„Wir hatten kein Geld, um uns ein Haus zu leisten, also haben wir Angehörige der Toten gefragt, ob wir hier bleiben dürfen.“ Zuerst sei es beängstigend gewesen, mittlerweile sei das Leben zwischen Leichen normal.
Dennoch, die Präsenz der Hingeschiedenen sei vor allem nachts ständig spürbar, erzählen Friedhofsbewohner. Und sie müssen es wissen. Manche sehen angeblich Schatten oder hören seltsame Klagelaute weinender Frauen und Kinder.
„Alle Haare stellen sich auf“
„Manchmal fühlt man sich, als wäre man nicht allein. Man bekommt Gänsehaut. Und dann weiß man einfach, dass Geister um einen herum sind“, sagt Marilyn. Im Dunkeln habe sie sogar Angst, auf Toilette zu gehen, weil sie oft das Gefühl habe, von Geistern verfolgt zu werden. „Alle Haare an meinem Körper stellen sich dann auf und ich spüre, dass eine Seele bei mir ist.“
Nachbarn hätten ihr ebenfalls von unheimlichen Begegnungen mit „weißen oder schwarzen Frauen“ erzählt. Andere hätten Erscheinungen von spielenden Kindern gesehen. „Es ist erschreckend. Aber sie tun uns nichts. Sie beschützen uns wahrscheinlich.“
In der Metropolregion von Manila leben heute fast 15 Millionen Menschen. Die Megacity gilt als eine der am dichtesten besiedelten Städte der Welt. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft dabei weit auseinander. Schätzungen zufolge sind fast drei Millionen Menschen in der Stadt obdachlos – so viele wie fast nirgendwo sonst.
Der 54 Hektar große Manila North Cemetery wurde 1904 eröffnet. Auf ihm haben unter anderem ehemalige Präsidenten, Künstler und Filmstars ihre letzte Ruhe gefunden, und jede Woche kommen mindestens 100 weitere Leichen hinzu.
Die Gräber werden von den Hinterbliebenen für fünf Jahre gemietet. Wenn sie die Miete dann nicht verlängern, werden die Gebeine entfernt, um Platz für neue Bestattungen zu schaffen. So erklären sich auch die Plastiksäcke mit Menschenknochen, die vereinzelt herumliegen.
Läden und WLAN
Was auffällt, ist die relative Sauberkeit des Geländes. „Wir halten unsere Häuser und die Umgebung in Ordnung. Hier stinkt es nicht, anders als in anderen Slumgebieten der Stadt“, sagt Merci Silva, deren Großmutter in den 1950er Jahren eine der ersten Siedlerinnen auf dem North Cemetery war. Der Müll wird viermal pro Woche abgeholt. Vereinzelt wurden einfache Toiletten und Duschen in verlassenen Mausoleen angelegt.
Auch gibt es kleine Läden, Stände mit gekochten Mahlzeiten und sogar münzbetriebene Prepaid-WLAN-Dienste. Zwölf Minuten Netzzugang kosten einen Philippinischen Peso (0,016 Euro).
Strom und Wasser werden den Bewohnern von einem von der Friedhofsverwaltung autorisierten Unternehmen zur Verfügung gestellt – müssen aber bezahlt werden. Manche Menschen besitzen Fernseher, die meisten auch ein Smartphone. „Meine Schwester hat sogar eine Klimaanlage in ihrer Hütte“, schmunzelt Merci.
Wer Glück hat, schlägt sich mit Gelegenheitsjobs außerhalb des Friedhofs durch, als Straßenkehrer, Tuk-Tuk-Fahrer oder Maurer etwa. Andere werden für die Grabpflege bezahlt. 100 Pesos (1,60 Euro) sind das durchschnittlich im Monat pro Grab.
Manche, wie Marilyn, kümmern sich um bis zu 25 Grabstätten – das macht gerade einmal 40 Euro monatlich. Viel zu wenig, um irgendwo eine Miete zu bezahlen.
Immer wieder gibt es Bestrebungen der Behörden, die Friedhofsbewohner umzusiedeln. Merci und Marilyn wünschen sich nur, dass sie dann an einen Ort gebracht werden, an dem sie auch Arbeit finden und eigenständig ihren Lebensunterhalt bestreiten können.
„Natürlich träumen wir davon, außerhalb des Friedhofs zu leben“, sagt Merci Silva. „Mein Enkel sagt immer, er werde in der Schule fleißig lernen, damit er einen guten Job findet und wir uns endlich draußen – vor den Friedhofsmauern – ein Haus leisten können.“ (dpa/red)
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