„Krachende Niederlage“ für May – und die EU
17 Monate hat die EU mit London gerungen, um 584 Seiten Brexit-Vertrag zustande zu bringen. Dass der Text jetzt mit so deutlicher Mehrheit im britischen Unterhaus durchfallen würde, hatte kaum jemand auf dem Kontinent erwartet. Ratlos bis verzweifelt klingen nun die Rufe aus Brüssel nach „Klarheit“ beim britischen Brexit-Kurs. Denn nur noch zehn Wochen bleiben, um einen chaotischen EU-Austritt Großbritanniens mit unabsehbaren Folgen für Wirtschaft und Bürger zu verhindern.
Eine „krachende Niederlage“ sei das 432-zu-202-Votum für die britische Premierministerin Theresa May, hieß es am Dienstagabend unisono von konservativen und sozialdemokratischen Abgeordneten im Europaparlament. May muss sich nun am Mittwochabend einem Misstrauensvotum im Unterhaus stellen.
Doch es ist womöglich auch eine krachende Niederlage für die EU. Sie hatte zwar mit der Ablehnung gerechnet, aber auf einen nur geringen Vorsprung der Vertragsgegner gehofft und auf eine Annahme in einer zweiten Abstimmung gesetzt.
Die Chancen darauf scheinen angesichts von 230 Stimmen Abstand nun gering. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Ratspräsident Donald Tusk blieb nichts übrig als zu erklärten, die EU werde die Notfallplanungen für einen „ungeordneten Austritt“ ohne Abkommen vorantreiben – auch wenn dies weiter nicht das gewünschte Szenario sei.
„Heute Abend hat klargemacht, dass der aktuelle Austrittsvertrag tot ist“, jubelte seinerseits der Brexit-Wegbereiter und britische Ex-Außenminister Boris Johnson. Die Londoner Regierung müsse nun „zurück nach Brüssel und einen besseren Deal ohne den backstop aushandeln“.
Dabei geht es um die bei den Brexit-Befürwortern verhasste Auffanglösung für die künftige Grenze zwischen der britischen Provinz Nordirland und Irland. Nach ihr bliebe das Vereinigte Königreich ohne andere Vereinbarung in einer Zollunion mit der EU. Die Brexit-Hardliner befürchten, dass Großbritannien auf unabsehbare Zeit an die EU gebunden bliebe und keine eigene Handelspolitik betreiben könnte. Sie fordern deshalb zumindest ein Enddatum.
Die Hoffnung, dass die EU nun die Auffanglösung für Nordirland aus dem Brexit-Vertrag streicht oder zumindest zeitlich befristet, dürfte aber etwas verfrüht sein. „Es wird jedenfalls keine Nachverhandlungen zum Austrittsabkommen geben“, bekräftigte Österreichs Kanzler Sebastian Kurz die bisherige EU-Linie.
Zweifel an dieser Position hatte kurz vor dem Votum ein Medienbericht über die Position der Bundesregierung geweckt. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ließ am Dienstag Angaben der britischen „Sun“ dementieren, sie habe gegenüber May angedeutet, dass es doch ein Enddatum beim backstop geben könne.
Der deutsche Europa-Staatsminister Michael Roth (SPD) sprach nach dem Unterhaus-Votum von einem „Desaster“. „Zu schade“, schrieb er auf Twitter. „Aber die Tür der EU bleibt offen.“
Nicht wenige auf dem Kontinent hoffen ohnehin, dass sich die Briten über ein zweites Referendum doch entschließen könnten, in der Union zu bleiben. Dazu gehört auch EU-Ratspräsident Tusk. Auf den Verzicht auf den Brexit sei die EU „am besten vorbereitet“, sagte er etwa im November.
Schon seit Wochen wird deshalb über die Frage diskutiert, ob der Brexit-Termin am 29. März um mehrere Monate verschoben werden könnte, um Zeit für die Organisation einer neuen Volksabstimmung zu schaffen. Nach dem Austrittsartikel im EU-Vertrag wäre das möglich, wenn alle anderen Mitgliedstaaten zustimmen.
Probleme bereitet aber die Europawahl Ende Mai, bei der keine britischen Abgeordneten mehr gewählt werden sollten. Ihre freiwerdenden 73 Mandate in der EU-Volksvertretung sind teils bereits auf andere Mitgliedstaaten verteilt.
Und Umfragen in Großbritannien zeigen zwar, dass nun eine Mehrheit für die EU-Mitgliedschaft stimmen könnte – groß ist der Vorsprung aber nicht. Die britische Gesellschaft bliebe damit auch beim Verbleib tief gespalten in ihrem Verhältnis zu Europa. (afp)
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