Keine Einigung zu Spitzenposten: Von der Leyen muss warten

Ursula von der Leyen sollte rund eine Woche nach der Europawahl eine weitere Hürde auf dem Weg zu einer zweiten Amtszeit als EU-Kommissionspräsidentin nehmen. Viktor Orbán spricht davon, dass der Wille des europäischen Volkes ignoriert wird.
EU-Ratspräsident Charles Michel hat zuletzt die Notwendigkeit des Schutzes der Zivilbevölkerung im Gazastreifen betont.
Die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder haben sich bei einem Gipfeltreffen in Brüssel nicht abschließend auf die Neubesetzung von EU-Spitzenposten einigen können. Das sagt Ratspräsident Charles Michel.Foto: Virginia Mayo/AP/dpa
Epoch Times18. Juni 2024

Viel Zuspruch für EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, aber Streit um andere Posten: Gut eine Woche nach den Europawahlen haben die Staats- und Regierungschefs am Montag in Brüssel erstmals über die Besetzung der Spitzenjobs beraten. Der Gipfel endete gegen Mitternacht ohne Einigung. Entscheidungen sind nach Angaben von Ratspräsident Charles Michel erst kommende Woche beim regulären EU-Gipfel zu erwarten.

„Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keine Einigung“, sagte Michel, der das Amt des Ratspräsidenten nach fünf Jahren abgibt. Beim Gipfel am 27. und 28. Juni werde es „mehr Klarheit“ geben, versprach der Belgier, der die Treffen der Staats- und Regierungschefs vorbereitet und leitet. Von der Leyen verließ das EU-Ratsgebäude, ohne sich öffentlich zu äußern.

Verspäteter Beginn

Der EU-Sondergipfel hatte rund zwei Stunden später als geplant begonnen, weil zunächst sechs Staats- und Regierungschefs eine Einigung sondierten. Daran beteiligten sich unter anderem Scholz, der polnische Regierungschef Donald Tusk und Macron.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte vor dem Gipfel Hoffnung auf eine Einigung „in kürzester Zeit“ geäußert. Auch einige Diplomaten wetteten mit Blick auf das Fußballspiel Österreich gegen Frankreich bei der Europameisterschaft, der Gipfel werde bis zum Anpfiff um 21 Uhr enden. Diese Frist verstrich jedoch ohne Abschluss. Als das Spiel in Düsseldorf schließlich 0:1 für Frankreich endete, saßen die 27 EU-Spitzen immer noch beim Abendessen.

Allerdings scheint der Weg für von der Leyen frei zu sein: Der kroatische Regierungschef Andrej Plenkovic sagte, er habe keine Stimme gehört, die ihre Bewerbung in Frage gestellt hätte. Eine Reihe von Staats- und Regierungschefs bescheinigten der CDU-Politikerin öffentlich, in den vergangenen fünf Jahren einen „sehr guten Job“ gemacht zu haben – darunter auch solche, die nicht ihrem politischen Lager angehören.

Neue EU-Chefdiplomatin – Debatte um EU-Ratspräsident

Die liberale estnische Regierungschefin Kaja Kallas würde demnach neue EU-Chefdiplomatin werden. Sie ist eine der größten Unterstützerinnen der Ukraine in der EU.

Während die 65-Jährige damit auf grünes Licht der Mitgliedsländer für eine zweite Amtszeit hoffen kann, wurde überraschend um den Posten des EU-Ratspräsidenten gefeilscht. Die Sozialdemokraten hatten dafür den früheren portugiesischen Regierungschef António Costa vorgeschlagen. Als Ratspräsident wäre der Sozialdemokrat dann dafür zuständig, die EU-Gipfel vorzubereiten und die Arbeitssitzungen zu leiten.

Nach Angaben aus mehreren Delegationen erhoben die konservativen Staats- und Regierungschefs nun ebenfalls Anspruch auf das Amt – zumindest für die Hälfte der fünfjährigen Legislatur.

Nächstes Treffen kommende Woche

Ende nächster Woche kommen die Staats- und Regierungschefs zu einem weiteren Gipfel zusammen, bei dem es eigentlich vor allem um wichtige Zukunftsthemen gehen soll. Bei ihm muss nun erneut über die Spitzenposten beraten werden. Von Diplomaten hieß es, es gehe letztlich nur noch um Details.

Die sechs Staats- und Regierungschefs, die für die drei großen Parteienfamilien verhandelten, seien sich bei den Namen von der Leyen, Costa und Kallas einig.

Für die EVP verhandeln der polnische Ministerpräsident Donald Tusk und der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis, für die Sozialdemokraten Bundeskanzler Olaf Scholz und der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez.

Die Liberalen setzen auf Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron und den scheidenden niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte als Verhandlungsführer.

Streit um Dauer einer Postenbesetzung

Ein Grund für Streit am Montagabend war nach Angaben von Diplomaten, dass die Parteienfamilie mit den Parteien CDU und CSU erreichen wollte, dass die Besetzung des Amtes des EU-Ratspräsidenten nicht sofort für fünf Jahre geregelt wird.

Dies würde bedeuten, dass sie theoretisch nach zweieinhalb Jahren Anspruch auf das Amt erheben könnte. Die Sozialdemokraten lehnten dies nach Angaben aus Verhandlungskreisen ab.

Der Ratschef wird anders als Kommissionspräsidentin und Außenbeauftragte eigentlich nur für 2,5 Jahre gewählt. Zuletzt war es allerdings so gewesen, dass der Posten bei den Personalverhandlungen wie die anderen Posten für fünf Jahre einer Parteienfamilie versprochen wurde.

Mitte-Rechts-Bündnis beansprucht Top-Job

Die bürgerlich-konservative EVP war bei der Europawahl Anfang Juni vor den Sozialdemokraten und den Liberalen die mit Abstand stärkste politische Kraft geworden. Daher hat sie die stärkste Position in den Verhandlungen und beansprucht die Präsidentschaft der EU-Kommission für sich.

Diese gilt als die mit Abstand wichtigste Position, die nach der Europawahl neu zu besetzen ist. Der Amtsinhaber ist Chef von rund 32.000 Mitarbeitern, die unter anderem Vorschläge für neue EU-Gesetze machen und die Wahrung der Europäischen Verträge überwachen. Zudem sitzt er bei fast allen großen internationalen Gipfeltreffen wie G7 oder G20 als EU-Repräsentantin mit am Tisch.

Einfache Mehrheit reicht nicht

Notwendig für die Entscheidung im Gremium der Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten ist eine sogenannte verstärkte qualifizierte Mehrheit. Das heißt, es mussten mindestens 20 der 27 EU-Staaten zustimmen und diese müssen zudem mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU repräsentieren.

Derzeit gehören im Europäischen Rat ein Dutzend Staats- und Regierungschefs den Mitgliedsparteien des Mitte-Rechts Bündnisses EVP an. Danach folgen die Gruppe der Liberalen, zu den insbesondere Frankreichs Präsident Macron zählt, und die der sozialdemokratischen Staats- und Regierungschefs mit Politikern wie Bundeskanzler Scholz.

Damit von der Leyen eine zweite Amtszeit antreten kann, müssen nach den Staats- und Regierungschefs auch die Abgeordneten des Europäischen Parlaments grünes Licht geben.

Orbán sieht Wahlergebnis ignoriert

Kritik an den Verhandlungen zwischen den drei großen Parteienfamilien kam in der Nacht vom ungarischen Regierungschefs Viktor Orbán, der 2021 mit seiner Partei nach einem Streit um die Rechtsstaatlichkeit in seinem Land aus der EVP ausgetreten war und seitdem keiner Parteienfamilie mehr angehört.

Der Ungar schrieb nach dem Gipfeltreffen, bei der Europawahl seien rechte Parteien stärker geworden, Linke und Liberale hätten an Boden verloren – dennoch habe sich die EVP nun mit den Sozialisten und Liberalen zusammengetan.

„Heute haben sie einen Deal geschlossen und die Spitzenjobs der EU unter sich aufgeteilt. Sie scheren sich nicht um die Realität“, schrieb Orbán. „Der Wille des europäischen Volkes wurde heute in Brüssel ignoriert.“ Ob Orbán sich offen gegen von der Leyen stellte, sagte er allerdings nicht.

Mark Rutte: Keine „Tombola“ wie 2019

Der scheidende niederländische Regierungschef Mark Rutte äußerte die Hoffnung auf eine Einigung in der kommenden Woche. Die Beratungen seien keine „Tombola“ wie nach den letzten Europawahlen 2019, sagte Rutte. Damals hatte der französische Präsident Emmanuel Macron einen Überraschungscoup gelandet, als er von der Leyen für die Kommissionsspitze vorschlug.

Rutte will seinerseits Nachfolger von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg werden, er wird darin von den USA, Deutschland und 27 weiteren Ländern im Bündnis unterstützt.

Widerstand leistet bisher der ungarische Regierungschef Viktor Orban, weil sich Rutte kritisch zu Rechtsstaatsmängeln in Ungarn geäußert hatte. Nach einem Treffen mit Orban am Rande des Gipfels äußerte sich der Niederländer „vorsichtig optimistisch“. Eine Entschuldigung habe Orban nicht verlangt.

(dpa/afp/red)

 



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