Ivan Rioufol: Das Erwachen der Franzosen ist wie der Fall der Berliner Mauer

Ein politisches Erdbeben hat Frankreich erschüttert. Die Europawahlen am Sonntag, dem 9. Juni, endeten mit einem klaren Sieg der Rassemblement National und einer vernichtenden Niederlage der Partei Renaissance von Emmanuel Macron. Der Präsident hat als Konsequenz am Sonntagabend Neuwahlen angekündigt. Eine Wahlanalyse des französischen Essayisten Ivan Rioufol.
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Essayist Ivan Rioufol: „Die moralischen Einschüchterungsversuche funktionieren nicht mehr.“Foto: Bertrand Guay/AFP via Getty Images
Von 11. Juni 2024

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Der Schritt von Emmanuel Macron, die Nationalversammlung aufzulösen und damit Neuwahlen herbeizuführen, hat viele Franzosen überrascht. Das Wahlergebnis vom Sonntag setzt den Präsidenten vor allem unter Druck, weil sein Regierungslager bereits geschwächt ist. Seit knapp zwei Jahren hat es in der Nationalversammlung keine absolute Mehrheit mehr.

Der Journalist und Essayist Ivan Rioufol analysiert für Epoch Times die Entscheidung Macrons, die Ergebnisse der Wahlen und ihre Bedeutung.

Der rechte Rassemblement National mit Spitzenkandidat Jordan Bardella, geführt von Marine Le Pen, hat 31,4 Prozent geholt, Valérie Hayer von Macrons Renaissance-Partei nur 14,6 Prozent. Welchen Schluss ziehen Sie aus dieser Wahl?

Die Strategie der Angst hat versagt. Die intellektuelle Einschüchterung funktioniert nicht mehr. Nur fünf Tage vor der Wahl am 9. Juni warnte Emmanuel Macron vor dem „Aufstieg der extremen Rechten“ und der „bedrohten Demokratie“. Das Wahlergebnis zeigt, dass sich die Franzosen von diesen Drohungen über eine gefährliche postfaschistische Welt, die uns aufgrund des Anstiegs populistischer und souveräner Stimmen wieder heimsuchen würde, nicht mehr beeindrucken lassen und sich nun über diesen Ukas [Anm. d. Red.: Erlass im zaristischen Russland] hinwegsetzen. Wir können also sagen, dass wir am Ende einer Welt angelangt sind: Wir verlassen die Welt der Ideologien und treten in die Welt der Realitäten ein. Die Ideologie wird an der Wand der Realität zerschellen.

Zu sehen, dass die Franzosen ihre Augen öffnen und sich nicht mehr gezwungen fühlen, dem Diktat der politischen Korrektheit zu folgen, erinnert mich in gewisser Weise an den Fall der Berliner Mauer, der das Ende der kommunistischen Tyrannei einläutete. Die despotische und totalitäre Sowjetunion betrachtete jeden, der sich dem herrschenden Diskurs widersetzte, als Dissidenten. Heute gewinnen die Dissidenten, die Ausgestoßenen unserer Zeit, ihrerseits und übernehmen die Macht.

Nur wenige Augenblicke nach dem deutlichen Sieg des RN kündigte Emmanuel Macron am Sonntagabend überraschend die Auflösung der Nationalversammlung an, was die Ausrufung von Parlamentswahlen am 30. Juni und 7. Juli zur Folge hat. Wie analysieren Sie die Entscheidung des Staatschefs?

Ich zolle dem Staatspräsidenten Respekt für seine mutige Entscheidung, das Spiel der Demokratie zu spielen und dem Volk wieder das Wort zu geben, das ihm zu lange vorenthalten worden war. Natürlich geht der Präsident ein erhebliches Risiko ein, sowohl persönlich als auch politisch, indem er sich von vornherein einer Ablehnung aussetzt.

Denn die Franzosen, die sich mittlerweile von Denkverboten befreien und entschlossen sind, das zu sehen, was seit 50 Jahren von der politischen Macht, ob rechts oder links, ausgeblendet wurde, könnten diese Grundbewegung bei den Parlamentswahlen durchaus bestätigen.

Wenn die Wähler die Tendenzen der Europawahlen beibehalten, werden sie erneut eine massive Ablehnung der Politik der Macronisten zum Ausdruck bringen und damit den Weg für eine Kohabitation frei machen [Anm. d. Red.: Kohabitation wird in der französischen Politik der Zustand bezeichnet, wenn der Präsident einer anderen politischen Partei angehört als die Mehrheit, die die Regierung stellt]. Diese wäre jedoch nicht unbedingt vorteilhaft für den Rassemblement National. Der RN müsste nämlich eine Politik voranbringen, die von Emmanuel Macron behindert wird. Eine Falle von Macron? Vielleicht verbirgt sich hinter der Auflösung der Nationalversammlung ein geschickter Schachzug seinerseits, allerdings zu einem sehr hohen Preis: Viele Abgeordnete der Macron-Partei werden wahrscheinlich nicht wieder ihren Sitz im Parlament einnehmen.

Mit dem Überschreiten der 5 Prozent-Hürde hat Reconquête, die Partei rechts außen, sein politisches Überleben gesichert. Ist es denkbar, dass diese Partei dem Rassemblement National nach und nach Stimmen abzwingt, da sich der RN für die Strategie einer Mäßigung und Entdiabolisierung entschieden hat?

Es gibt tatsächlich eine Diskrepanz zwischen den Prioritäten von Reconquête und dem Rassemblement National. Reconquête ist stärker aufs Identitäre ausgerichtet. Sie reagieren auf eine Existenzangst, die mit einer islamischen Einwanderung verbunden ist, die sich nicht mehr integrieren lässt.

Wenn es Reconquête gelingt, Abgeordnete ins Parlament zu wählen, könnte sich dies als vorteilhaft erweisen, da sie die Rolle eines Resonanzbodens übernehmen könnten. Dennoch scheint es mir, dass alle diese Rechten im Großen und Ganzen das gleiche Ziel verfolgen und zu einer strategischen Allianz geführt werden.

Es ist wahrscheinlich, dass es zu einer Annäherung der Parteien kommen wird, auch seitens der republikanischen Rechten, die meiner Meinung nach diese große Dynamik der Bürger, die sich von ihren ideologischen Fesseln befreien, umarmen sollte. Es wäre kontraproduktiv, wenn die Republikaner in alte Muster zurückfielen und versuchten, der Regierungslinken zu schmeicheln, zumal diese trotz allem schwere Wahlverluste erlitten hat.

Die Bewegung von Raphaël Glucksmann, Réveiller l’Europe (Europa erwecken), ist Valérie Hayer von der Macron Partei, dicht auf den Fersen – weniger als ein Punkt Unterschied. Haben die sozialistischen Wähler, die sich seit dem François Hollande-Debakel im Élysée-Palast für Emmanuel Macron entschieden hatten, dem Präsidenten den Rücken gekehrt und sind in die Heimat zurückgekehrt, ohne jedoch zur extremen Linken zu wechseln?

Das ist sehr wahrscheinlich. Es gibt noch eine sozialdemokratische und antitotalitäre Linke, die von Raphaël Glucksmann verkörpert wird und der man zumindest diese Tugend zugestehen kann. Im Übrigen unterscheidet die Bewegung sich kaum von der Liste der macronistischen Spitzenkandidatin Valérie Hayer. Letztere hatte gefordert, dass der sozialistische Spitzenkandidat „mit uns sein sollte“, da die Abgeordneten „zu 90 Prozent auf die gleiche Weise“ abstimmen. Das sind mehr als nur Cousine und Cousin ersten Grades. Das sind fast Zwillinge!

Man kann sich also vorstellen, dass ein Teil der Wählerschaft der Präsidentenmehrheit diese weiche Mitte verlassen und sich einer anderen angeschlossen hat. Trotz allem bleiben wir in einem weichgespülten Zentrismus. Und in Wahrheit kann ich bei vielen Themen nicht einmal erkennen, was die Glucksmann-Linke von der Nupes unterscheidet, der er früher angehörte.

Wie dem auch sei, es ist unbestreitbar, dass es heute einen Platz für die antitotalitäre Sozialdemokratie gibt, was ziemlich beruhigend ist. Ich sehe lieber einen Glucksmann bei 13 Prozent als einen Mélenchon bei zehn Prozent [Anm. d. Red.: Jean-Luc Mélenchon, Chef der linkspopulistischen Partei La France insoumise, LFI].

Ist bei den bevorstehenden Parlamentswahlen mit einem neuen Linksbündnis zu rechnen?

Es ist schwierig, dies zu sagen. Zum jetzigen Zeitpunkt bezweifle ich, dass die Betroffenen selbst diese Frage beantworten können. Die Geschichte hat uns jedoch gezeigt, dass die Linke oft klüger ist als die Rechte, da sie in der Lage ist, Bündnisse zu schmieden, wenn sie darin ihren Vorteil sieht. Und sei es, dass sie sich mit dem Schlimmsten verbündet. Erinnern Sie sich an die Linksunion von 1981, die es der Sozialistischen Partei ermöglichte, sich mit der totalitärsten Partei Europas, der Kommunistischen Partei, zu verbünden.

Eine Konvergenz der Linken ist also nicht auszuschließen angesichts der Hysterie, die nun die politische Debatte durchziehen wird, die durch das antifaschistische Theater fehlgeleitet wird, das uns glauben machen soll, dass Hitler an die Macht kommt. Kaum waren die europäischen Wahlergebnisse bekannt gegeben worden, hatte sich Manon Aubry, Spitzenkandidatin der LFI, bereits zu Äußerungen in diese Richtung hinreißen lassen: „Bestimmte Teile unseres politischen, medialen und wirtschaftlichen Systems schicken sich an, lieber Hitler als die Volksfront zu sagen“, erklärte sie. [Anm. d. Red.: Der „Front Populaire“ unter Léon Blum, ein Bündnis von Sozialisten, Kommunisten und radikalen Linken, 1936 – 1938 an der Macht]

Diese manichäische Propaganda, die erneut versuchen wird, unter den Franzosen Angst zu verbreiten, indem sie ihnen unterstellt, dass der Faschismus vor der Tür steht, bringt uns zum Anfang unseres Gesprächs zurück: Diese moralischen Einschüchterungsversuche funktionieren nicht mehr. Was im Moment unsere Aufmerksamkeit verdient, ist der Sinn der Geschichte, denn den gibt es, und er tendiert zu einem Erwachen der Nationen und Völker. Ein Aufschwung, der sich nicht nur auf Frankreich beschränkt, sondern ganz Europa betrifft. Wie Victor Hugo sagte: „Keine Armee kann der Kraft einer Idee widerstehen, deren Zeit gekommen ist.“

Das Interview mit Ivan Rioufol ist im Original in der französischen Epoch Times erschienen und wurde hier in einer gekürzten Fassung wiedergegeben.



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