Ischgl als das Wuhan der Alpen: Coronavirus von Nobel-Skiort aus über Europa verbreitet

Eine der Drehscheiben bei der europaweiten Verbreitung des Coronavirus war der Tiroler Skiort Ischgl. Von dort aus nahmen Touristen das Virus mit nach Deutschland, Island, Dänemark und Norwegen. Mangels Warnungen kehrten sie arglos an ihre Arbeitsplätze zurück.
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Ischgl, 7. Februar 2020. Viele Menschen infizierten sich hier mit dem Coronavirus, ohne es zu wissen.Foto: iStock
Von 16. März 2020

Jüngsten Erkenntnissen zufolge ist die chinesische Provinz Wuhan nicht der einzig relevante Ort gewesen, von dem aus das Coronavirus rasche Verbreitung in alle Welt fand. Eine Drehscheibe, von der aus sich die Seuche sehr schnell in mehrere Länder Europas ausbreiten konnte, ist auch der Nobelskiort Ischgl im Tiroler Paznauntal. Dort finden sich Jahr für Jahr wohlhabende Urlaubsgäste aus aller Welt zum Wintersport, in Wellnessoasen und auf Partys ein.

Nun steht das gesamte Gebiet unter Quarantäne – und Behörden in mehreren Ländern suchen immer noch fieberhaft nach ausländischen Urlaubern, die vor Verkündung der weitreichenden Anti-Virus-Maßnahmen für ganz Österreich am vergangenen Freitag (13.3.) aus der Gegend in ihre Heimat gereist sind und sich noch nicht bei den Gesundheitsämtern gemeldet haben könnten.

Wie das T-Online-Newsportal berichtet, hat beispielsweise der Ostalbkreis eine eigene E-Mail-Adresse ([email protected]) eingerichtet, über die 200 Personen aufgefordert sind, sich unverzüglich zu melden. Sie waren mit Reisebussen in Ischgl und könnten nun ebenfalls infiziert sowie potenzielle Überträger sein.

Landessanitätsdirektion hielt Ansteckung in Tirol für unwahrscheinlich

Mittlerweile werden an die lokalen Behörden in Tirol Vorwürfe gerichtet, man habe Warnhinweise nicht ausreichend ernstgenommen und auf diese Weise effektive Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung des Coronavirus verzögert.

Bereits am 29. Februar traf ein Urlauber von München aus auf dem Flughafen des isländischen Keflavík ein, der zuvor in Ischgl seinen Winterurlaub verbracht hatte. Tags darauf wurde er positiv auf SARS-CoV-2 getestet, als erster Träger des Virus auf der Insel. In den Tagen darauf wurden in Island, aber auch in Norwegen und Dänemark mehrere Personen aus Ischgl-Reisegruppen positiv getestet. Am 5. März erklärte Island das Gebiet zu einem Risikogebiet auf der identischen Gefahrenstufe mit Wuhan und dem Iran.

In Tirol, wo man über den Schritt der Isländer in Kenntnis gesetzt worden war, ging man erst davon aus, dass ein kranker Italien-Urlauber an Bord des Flugzeuges nach Keflavík der Ursprung der weiteren Fälle gewesen sei. In einer Presseerklärung des Landessanitätsdirektors Franz Katzgraber hieß es, es erscheine „aus medizinischer Sicht wenig wahrscheinlich, dass es in Tirol zu Ansteckungen gekommen ist“.

Norwegen: Mehr als ein Drittel der Coronavirus-Fälle nach Tirol zurück zu verfolgen

Norwegen ließ am 7. März Ischgl-Rückkehrer testen, ebenfalls mit zahlreichen positiven Befunden. Schon wenig später hatte das Virus bereits die Runde gemacht – und es sollte sich nicht auf die an jenem Tag getestete Reisegruppe beschränken. Wie am gestrigen Sonntag verlautbart wurde, hatten sich von den bis dahin 1198 Infizierten in Norwegen nicht weniger als 491 in Österreich angesteckt, hauptsächlich im Paznauntal.

Erst am vergangenen Samstag griff die österreichische Bundesregierung durch. Nachdem das Paznauntal und St. Anton am Freitag komplett unter Quarantäne gestellt worden waren, riefen Gesundheitsminister Rudolf Anschober und Innenminister Karl Nehammer die Menschen, die sich dort seit dem 28. Februar sowie in Heiligenblut aufhielten, dazu auf, sich in häusliche Selbstisolation zu begeben. Das Robert-Koch-Institut (RKI) hatte Tirol am vergangenen Freitag insgesamt zum Risikogebiet erklärt.

Erster in Ischgl selbst festgestellter Fall am 7. März

Der erste in Ischgl selbst bestätigte Fall einer Corona-Infektion war am Abend des 7. März ein 36-jähriger deutscher Servicemitarbeiter in der „Kitzloch“-Bar. Entgegen der Einschätzung der Landessanitätsdirektion und der Barbetreiber vom 8. März wurden einen Tag später nicht weniger als 15 Personen aus dem Umfeld des Kitzloch-Mitarbeiters positiv getestet. Unterdessen wurden in Deutschland mehrere Ischgl-Rückkehrer aus einer Reisegruppe als Befallene identifiziert. Da es keine Warnungen gegeben hatte, waren mehrere von den Urlaubsrückkehrern arglos an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt – und hatten auf diese Weise einen neuen Verbreitungskanal eröffnet.

Ein weiteres Cluster an Infizierten, die zuvor das Tiroler Skigebiet besucht hatten, tat sich in Dänemark auf, wo Anfang der Vorwoche 60 von 156 Corona-Patienten aus Österreich zurückgekehrt waren. Am Donnerstag waren es bereits 139. Zu diesem Zeitpunkt hatten auch im Ostalbkreis die Behörden Alarm geschlagen. Als auch in Hamburg gehäuft Fälle in Tirol infizierter Urlaubsrückkehrer festgestellt worden waren, bat die Hansestadt das RKI „dringend um Prüfung, ob die Region als Risikogebiet eingestuft werden muss“. Am 13. März nahm die Einrichtung diese Einstufung vor.

Landeshauptmann weist Vorwürfe zurück

In Tirol selbst weisen von derzeit 170 Infizierten zwei Drittel einen Bezug zum Paznauntal auf. Nun beginnt die Suche nach Schuldigen – und Vorwürfe werden laut, bei den lokalen Behörden sei aus wirtschaftlichen Gründen versucht worden, die Einstufung als Risikogebiet und das damit verbundene vorzeitige Saisonende hinauszuzögern.

Tirols Landeshauptmann Günther Platter weist diese zurück. Man habe „rasch reagiert, anders als die Lombardei“. Vielmehr sei jetzt zügig gehandelt worden, obwohl der Schritt gravierende wirtschaftliche Folgen hätte.

Thomas Mayer schreibt im „Standard“ hingegen von „Systemmängeln“ auf nationaler und europäischer Ebene, die der aufzeige. Er meint: „Die Behörden in Wien haben das Versagen der regionalen Ebene nicht korrigiert. Das schlug durch auf jene EU-Staaten und Nordländer, woher die Touristen kamen. Es fehlte EU-weit an gezielten Warnungen und Tests. Fahrlässig.“



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