Immer höhere Militärausgaben: Die These von der unterfinanzierten NATO

Der CDU-Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter möchte dauerhaft die Verteidigungsausgaben auf drei Prozent des BIP anheben. Damit steht er nicht alleine da: In der EU wird seit 2022 immer wieder gefordert, die Militärausgaben massiv zu steigern. Dabei sind diese schon heute deutlich höher als der russische Verteidigungshaushalt.
Die Bundeswehr beteiligte sich unter anderem mit einem Großmanöver mit dem Namen Quadriga 2024 an Steadfast Defender.
Die Bundeswehr bei der NATO-Großübung Steadfast Defender. 90.000 Soldaten aus 32 Ländern probten den Ernstfall: Deutschland und Frankreich geben zusammen für ihre Streitkräfte mehr aus als Russland.Foto: Kay Nietfeld/dpa
Von 12. Juli 2024

Vor einigen Tagen forderte der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter im Zusammenhang mit den bevorstehenden Verhandlungen über den Haushalt 2025, die Ausgaben für die Bundeswehr stärker zu priorisieren. Gegenüber den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Dienstagausgabe) sagte der Bundestagsabgeordnete: „Dass der Bundesregierung es bei der Haushaltsaufstellung nicht gelingt, die Bundeswehr notwendig zu priorisieren, ist bitter und eine Enttäuschung für die Soldaten.“

Wie Kiesewetter sagt, zeige dies, dass die „Zeitenwende im Mindset des Kanzlers“ noch nicht abgeschlossen sei. Der CDU-Politiker kritisierte ebenfalls, dass Bundeskanzler Olaf Scholz der Bevölkerung nicht die Wahrheit über die aktuelle Bedrohungslage mitteile.

Außerdem forderte Kiesewetter, dass der Verteidigungsetat kontinuierlich auf etwa drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts ansteigen solle. Er betonte, dass der Verteidigungsetat in der Vergangenheit bei fünf bis sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts lag: „Es ist also möglich, Prioritäten zu setzen, wenn der politische Wille vorhanden ist.“ 

Woher der Bundestagsabgeordnete die Zahlen nimmt, erklärt er im Interview nicht. Schaut man aber in die „Datenbank für Militärausgaben“ des schwedischen Friedensforschungsinstituts SIPRI, ergibt sich ein anderes Bild. Zur Anfangszeit der Bundeswehr ab 1955 lag der Wehretat Deutschlands nach diesen Daten in fast allen Jahren über 3,5 Prozent des BIP. Die bis heute höchste BIP-Quote erreichten die Verteidigungsausgaben im Jahr 1963 mit 4,9 Prozent.

Nach den hohen Militärausgaben der 1960er-Jahre sank ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) im darauffolgenden Jahrzehnt auf etwa drei Prozent. In den 1980er-Jahren reduzierte sich der Wehretat weiter auf 2,5 Prozent des BIP.

Mit der deutschen Wiedervereinigung stieg einerseits das Bruttoinlandsprodukt deutlich an, a2ndererseits entfiel durch den Zerfall der Sowjetunion der Hauptgrund für hohe Verteidigungsausgaben. Das führte dazu, dass die deutschen Militärausgaben in den 1990er-Jahren nahezu halbiert wurden. Regelmäßig lagen diese dann zwischen ein und 1,4 Prozent des BIP. Das änderte sich 2022 mit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine. Nun sollen die Militärausgaben wieder erhöht werden.

„Krieg nach Russland tragen“

Kiesewetter ist immer wieder mit harten Forderungen in Richtung Russland aufgefallen. So sagte der Politiker etwa Anfang Februar in einem Interview mit der „Deutschen Welle“ (DW), dass man den Krieg nach Russland tragen müsse:


Russland muss das Existenzrecht seiner Nachbarn anerkennen. Der Krieg muss nach Russland getragen werden. Russische Militäreinrichtungen und Hauptquartiere müssen zerstört werden. Wir müssen alles tun, dass die Ukraine in die Lage versetzt wird, nicht nur Ölraffinerien in Russland zu zerstören, sondern Ministerien, Kommandoposten, Gefechtsstände.“

Wenig später legte Kiesewetter in der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) (hinter einer Bezahlschranke) nach, indem er eine deutliche Erhöhung des Sondervermögens von derzeit vorgesehenen 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr forderte. „Es ist ja völlig klar, dass wir eher 300 statt 100 Milliarden benötigen, damit die Bundeswehr kriegstüchtig wird.“

Die Bundestagsfraktion der Union distanzierte sich von den Aussagen ihres Bundestagsabgeordneten. Ein Sprecher der Unionsfraktion sagte damals der Nachrichtenagentur dpa: „Der Vorschlag von Herrn Kiesewetter ist nicht Meinung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.“

Doch Kiesewetter ist nicht alleine. Immer wieder haben in den vergangenen Monaten westliche Politiker und Sicherheitsfachleute darauf hingewiesen, dass Russland noch in diesem Jahrzehnt einen weiteren Krieg in Europa beginnen könnte. 

So sagte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) Anfang Juni in einer Regierungsbefragung im Bundestag, dass die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr angesichts des Ukraine-Kriegs zügig erhöht werden müsse. „Wir müssen bis 2029 kriegstüchtig sein“, betonte Pistorius damals. Aktuell sei ein Angriff auf Mitgliedsländer des westlichen Militärbündnisses nicht wahrscheinlich. In fünf bis acht Jahren, so Pistorius, sei so ein Angriff von russischer Seite allerdings durchaus denkbar. Das könnte dann auch ein Angriff auf eines der Länder an der Ostflanke der NATO sein.

Putin dementiert Pläne für einen russischen NATO-Angriff

Anfang Juni traf sich Putin mit Vertretern großer internationaler Nachrichtenagenturen. Die Befürchtungen westlicher Staaten vor einem russischen Einmarsch auf NATO-Gebiet hatte Putin zurückgewiesen. „Sie haben sich ausgedacht, dass Russland die NATO angreifen will“, sagte Putin.

Ähnlich hatte sich Präsident Putin auch im Interview mit dem amerikanischen Journalisten Tucker Carlson geäußert. Russland habe keine Angriffspläne gegen die Nachbarländer und NATO-Mitglieder Polen oder Lettland, beteuerte Putin damals. Die Gerüchte rund um Angriffspläne Russlands verstehe er als das Schüren von Drohungen, sagte Putin im Interview.

Am Beispiel von Polen erklärte Putin, er könne sich nur ein Szenario für eine russische Invasion vorstellen: „Wenn Polen Russland angreift.“

Eine reale Gefahr eines russischen Angriffs auf NATO-Länder sehen westliche Sicherheitsexperten trotzdem. So etwa der Militärexperte Pavel Luzin, der in den USA lebt und als Senior Fellow im Democratic Resilience Program am Center for European Policy Analysis tätig ist. Luzin betonte im Mai im „Deutschlandfunk“, dass Russland offen erklärt habe, die nach dem Kalten Krieg etablierte Weltordnung zu zerstören und eine neue Ordnung zu schaffen. Dies mache Russland zu einer militärischen Bedrohung sowohl für die NATO als auch für alle europäischen Länder.

Putin habe wiederholt seinen Anspruch auf Hegemonie über Europa deutlich gemacht, betont Luzin. Ein prägnantes Beispiel dafür sei Russlands Ultimatum an die NATO-Staaten im Dezember 2021. In diesem Ultimatum forderte der Kreml, dass die NATO keine weiteren Staaten, insbesondere die Ukraine und Georgien, in ihr Bündnis aufnimmt. Zudem verlangte Russland, dass die NATO sich aus allen Ländern zurückzieht, die vor 1997 nicht Teil des Bündnisses waren. Dies betrifft hauptsächlich die Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes. „Diese Ideologie zielt auf die Wiederherstellung des Russischen Reichs ab“, erklärt Luzin. Im Kern sei diese Ideologie anti-westlich.

Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik ergänzt im „Deutschlandfunk“:

Die Staaten, die mit Russland oder der Sowjetunion eine Erfahrung haben, die warnen alle. Bei denen sind alle Lichter auf Rot und auf Alarm gestellt. Das gilt für Polen, das gilt für das Baltikum, das gilt aber auch für Tschechien oder andere Länder.“

Militärausgaben steigen in ganz Europa

Wie der „Merkur“ im Februar schrieb, hat auch der dänische Verteidigungsminister Troels Lund Poulsen im dänischen Parlament davor gewarnt, dass Russland innerhalb von drei bis fünf Jahren ein NATO-Land angreifen könne. Deshalb hatte Poulsen gefordert, den Militärhaushalt zu erhöhen. Ähnliche Diskussionen werden im Moment auch in anderen europäischen Ländern geführt. 

So hat das Parlament in Frankreich im vergangenen Jahr einen Siebenjahresplan beschlossen, der vorsieht, den Militäretat in den kommenden Jahren zu verdoppeln. Lagen die Ausgaben in Frankreich 2017 noch bei 32 Milliarden Euro, sollen die Militärausgaben bis zum Ende des Jahrzehnts auf 69 Milliarden Euro pro Jahr steigen. Bis 2030 möchte Frankreich dafür insgesamt 413 Milliarden Euro ausgeben.

Auch Deutschland möchte seine Ausgaben für das Militär in den kommenden Jahren erhöhen. Bis 2028, so die Pläne der Ampel, soll der Militärhaushalt schrittweise auf 80 Milliarden Euro steigen. Das hat Bundeskanzler Olaf Scholz auf der Pressekonferenz zur Einigung über den Bundeshaushalt für das kommende Jahr angekündigt.

Der Westen begründet das Hochfahren der Rüstungsproduktion des Westens seit 2022 mit der wiederholten Aussage:

Russland ist die größte Bedrohung des Friedens und der Sicherheit. Wir müssten aufrüsten!

Wie die amerikanische Ausgabe der Epoch Times (hinter Bezahlschranke) berichtet, arbeitet die NATO-Führung im Moment sehr intensiv daran, dass alle 32 Mitgliedstaaten jedes Jahr einen Mindestbeitrag für die Verteidigung ausgeben. 

Am 9. Juli erklärte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg vor führenden Vertretern der internationalen Rüstungsindustrie, dass das Ziel der Allianz, zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) für die Verteidigung auszugeben, eher als Verpflichtung denn als Empfehlung betrachtet werden sollte. „Das ist das Ergebnis einer gemeinsamen Entscheidung und gemeinsamen Verantwortung“, sagte Stoltenberg laut Epoch Times. 

NATO-Verteidigungsetat übersteigt den gesamten russischen Haushalt

Aufschlussreich ist ein Artikel im „Journal für internationale Politik und Gesellschaft“ (IPG) von Professor Herbert Wolf. Er ist der ehemalige Leiter des Bonn International Center for Conflict Studies (BICC) und heutiges Mitglied am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) an der Universität Essen/Duisburg. Unter der Überschrift „Die Mär vom NATO-Defizit“ vertritt der Experte die Meinung, dass es, anders als immer wieder behauptet, keine NATO Unterfinanzierung gebe.  

Zwischen 2015 und 2022, so erklärt Wolf, wuchsen die Militärausgaben der NATO-Länder in Europa und Kanada jährlich zwischen 1,6 und 5,9 Prozent. 2023 stiegen sie um 8,3 Prozent. Die Budgets der europäischen NATO-Staaten und Kanadas stiegen von 235 Milliarden US-Dollar im Jahr 2014 auf geschätzte 380 Milliarden US-Dollar im Jahr 2024, eine Steigerung um mehr als 60 Prozent. Die gesamten NATO-Ausgaben, einschließlich der USA, beliefen sich 2024 auf 1.160 Milliarden US-Dollar.

Im Vergleich dazu gab Russland in den vergangenen zehn Jahren jährlich rund vier Prozent seines BIP für das Militär aus. 2022 betrug das russische Verteidigungsbudget 86,4 Milliarden US-Dollar und wird 2024 auf etwa 109 Milliarden US-Dollar geschätzt, etwa ein Drittel des gesamten Staatshaushalts. Der Verteidigungsetat der europäischen NATO-Länder übersteigt jedoch den gesamten russischen Staatshaushalt und die NATO-Ausgaben in Europa und Kanada sind dreieinhalbmal höher als die russischen Militärausgaben. Mit Finnland und Schweden in der NATO wird dieses Ungleichgewicht noch deutlicher. Russlands Militärausgaben machen nur zehn Prozent der NATO-Ausgaben aus, wenn man die USA einbezieht. Allein Frankreich und Deutschland haben 2022 zusammen so viel ausgegeben, wie Russland jetzt plant.

Die Zahlen zeigen, dass die NATO nie ein Defizit gegenüber Russland hatte und trotz der Bemühungen Moskaus auch heute nicht hat, selbst unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Kaufkraft.

NATO Russland klar überlegen

Die NATO ist Russland zahlenmäßig klar überlegen, resümiert Professor Wolf in seinem Beitrag. Der Hauptgrund für die „jahrzehntelange Unfähigkeit der Westeuropäer, im Rahmen der EU oder im europäischen Teil der NATO strategische Autonomie zu erzielen“ sieht Wolf nicht in den fehlenden finanziellen Mitteln. Trotz hoher Militärausgaben, auch in den vergangenen Jahren – Deutschland liege weltweit auf Platz 6 – sei die Bundeswehr schlecht ausgestattet. Die europäischen NATO-Länder hätten in den vergangenen zehn Jahren über 3.000 Milliarden US-Dollar für ihre Streitkräfte ausgegeben. Dennoch blieben große Diskrepanzen zwischen erklärter und tatsächlicher europäischer Verteidigungspolitik.

Der Krieg in der Ukraine hat die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der EU-Verteidigungspolitik verdeutlicht. Anstatt einer koordinierten Reaktion setzt Europa auf symbolische Maßnahmen wie Rufe nach mehr Waffen, um die gescheiterte gemeinsame Politik zu kaschieren, so das Resümee Wolfs.



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