Historisch in Österreich: FPÖ könnte erstmals den Bundeskanzler stellen
In Österreich zeichnet sich nach einem turbulenten Wochenende ein Novum ab: Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass erstmals in der Geschichte die rechte FPÖ den Bundeskanzler stellen und die Bundesregierung führen wird. Am späten Montagvormittag, 6.1., hat sich FPÖ-Chef Herbert Kickl in der Hofburg bei Bundespräsident Alexander Van der Bellen eingefunden. Am frühen Nachmittag teilte Van der Bellen mit, dass er Kickl mit der Regierungsbildung beauftragt habe.
Zuvor waren die Koalitionsgespräche zwischen ÖVP, SPÖ und NEOS und daran anschließende Verhandlungen zwischen ÖVP und SPÖ über einer Zweierkoalition gescheitert. Die Spitzen beider Parteien warfen sich gegenseitig vor, die Gespräche durch Unbeweglichkeit zum Scheitern gebracht zu haben. Bundeskanzler Karl Nehammer hat seinen Rücktritt als Bundeskanzler und ÖVP-Chef angekündigt. Van der Bellen wird im Laufe der Woche einen geschäftsführenden Regierungschef mit der Übernahme der Amtsgeschäfte betrauen. Dieser soll sie bis zur Bildung eines neuen Kabinetts weiterführen.
Stimmen gegen Kickl und die FPÖ „deutlich leiser“ geworden
Bundespräsident Van der Bellen, der stets als Gegner einer Regierungsbeteiligung der FPÖ galt, hatte bereits am Sonntag in einer Stellungnahme von einer „neuen Situation“ gesprochen, der Rechnung zu tragen sei. Er verteidigte seine Entscheidung, nach der Nationalratswahl nicht Kickl als Chef der stärksten Partei, sondern Nehammer mit der Regierungsbildung beauftragt zu haben.
Der Präsident erklärte, er habe mit der Betrauung Nehammers „unserer Heimat leere Kilometer ersparen“ wollen. Zum damaligen Zeitpunkt hatten die Spitzen aller anderen Parlamentsparteien eine Koalition mit Herbert Kickl und der FPÖ ausgeschlossen. Van der Bellen habe „lange Zeit den Eindruck gehabt, dass es zwischen ÖVP, SPÖ und NEOS eine gute Basis“ gebe.
Dass dies am Ende nicht der Fall war, sei „für viele eine große Enttäuschung“. Auch für ihn selbst sei dies überraschend gekommen. Nun gehe es um eine Regierung mit stabiler Mehrheit im Parlament. In Gesprächen mit politischen Verantwortungsträgern habe sich gezeigt, dass die Stimmen gegen eine Zusammenarbeit mit Kickl „deutlich leiser“ geworden seien.
„In der Demokratie geht es darum, dass man um Lösungen ringt und dann auch Kompromisse schließt. Und dies auch aufrichtig tut.“
Rede zur aktuellen politischen Situation: pic.twitter.com/baRHZdKmHr
— Alexander Van der Bellen (@vanderbellen) January 5, 2025
Neuwahlen würden für Österreich weiteren Zeitverlust bedeuten
Van der Bellen betonte, in einer Demokratie müsse es darum gehen, dass man „um Lösungen ringt und dann auch Kompromisse schließt, und dies auch aufrichtig tut“. Er kündigte an, den Regierungsbildungsprozess zu begleiten, um sicherzustellen, dass die „Grundpfeiler der liberalen Demokratie“ respektiert würden. Auch am Montag in seiner Erklärung zur Vergabe des Regierungsbildungsauftrags wies der Präsident auf die schwierige Lage Österreichs hin, die eine zeitnahe stabile Regierungsbildung erfordere.
ÖVP und SPÖ hätten zusammen über eine Mehrheit von einer einzigen Stimme im Nationalrat verfügt. Mit dieser hätten sie eine Legislaturperiode von fünf Jahren bestreiten müssen. Nach dem Scheitern der Gespräche zwischen den beiden großen Traditionsparteien wären Neuwahlen die einzige realistische Alternative zu einer Regierung mit FPÖ-Beteiligung gewesen. Umfragen hätten für diesen Fall weitere Zugewinne der Rechten prognostiziert.
Vieles spricht dafür, dass der Wirtschaftsflügel und die mächtige niederösterreichische Landesgruppe der ÖVP den Richtungswechsel bei den Konservativen erzwungen haben. Nehammer hatte seinen Wahlkampf mit dem Versprechen bestritten, nicht mit einer FPÖ unter Kickl zusammenzuarbeiten. Auf den letzten Metern vor der Wahl hatte die ÖVP damit noch um einige Prozentpunkte zulegen können.
Stocker in der ÖVP doch als Dauerlösung?
Im Laufe der Koalitionsgespräche hatten sich jedoch deutliche Differenzen in Fragen wie der Haushaltskonsolidierung, der Steuerpolitik, der Rentenreform oder der Beamtenbezüge gezeigt. Aus der ÖVP heißt es, die Sozialdemokraten hätten bis zuletzt Vermögens- und Erbschaftssteuern gefordert – was für die Konservativen eine rote Linie war. Die SPÖ betont, gerade in dieser Frage zuletzt kompromissbereit gewesen zu sein.
Unterdessen ist die Frage offen, wie dauerhaft der am Sonntag als „Interimsparteichef“ benannte Christian Stocker tatsächlich ÖVP-Vorsitzender bleiben wird. Der „exxpress“ sieht Anzeichen dafür, dass dieser dauerhaft diese Funktion ausüben könnte. Stocker galt als vehementer Gegner einer Koalition mit der FPÖ unter Kickl. Mittlerweile spricht jedoch auch er von „geänderten Verhältnissen“ und der Notwendigkeit einer schnellen Regierungsbildung.
Am Sonntag hatten Medien berichtet, über die Frage der künftigen Parteiführung solle endgültig nach den Gemeinderatswahlen in Niederösterreich am 26.1. entschieden werden. Allerdings hat sich der Verband im Stammland der ÖVP bereits jetzt eine wichtige Schlüsselposition gesichert. Generalsekretär ist nunmehr Alexander Pröll. Er ist der Sohn des früheren Vizekanzlers und Parteichefs Josef Pröll. Dieser wiederum war Neffe des langjährigen niederösterreichischen Landeshauptmanns Erwin Pröll.
Babler sieht „sehr starken Rückhalt“ in seiner Partei
SPÖ-Parteichef Andreas Babler warf der ÖVP und den NEOS vor, „Parteitaktik über das Wohl des Landes gestellt“ zu haben. Jetzt drohe „genau das, wovor wir als SPÖ immer gewarnt haben: Blau-Schwarz mit Herbert Kickl als Kanzler“. Die ÖVP werde nun zusammen mit der FPÖ ihr „Kahlschlag Programm“ durchführen. Dies bedeute Einsparungen im Gesundheitsbereich, bei den Pensionen und im Öffentlichen Dienst.
Bezüglich seiner eigenen Position innerhalb der Partei sprach Babler von „sehr starkem Rückhalt“, den er verspüre. Es sei ihm seit der Übernahme der SPÖ „sehr viel gelungen“. Bei den Regierungsverhandlungen sei seine Partei „der stabilste Partner am Tisch“ gewesen. Demgegenüber erklärte der burgenländische Landeshauptmann Hans-Peter Doskozil in der „ZiB2“, es sei an der Zeit, „Selbstreflexion“ zu üben. Die SPÖ müsse sich hinterfragen, ob man auf dem richtigen Weg sei und die Richtung stimme:
„Diese interne Diskussion werden wir führen müssen, die vermisse ich zum jetzigen Zeitpunkt.“
Die SPÖ hofft darauf, im Fall einer blau-türkischen Koalitionsbildung im Bund ein Ausrufezeichen bei den Gemeinderatswahlen in Wien zu setzen. Diese werden im Herbst stattfinden. Außerdem zeichnet sich bereits jetzt ein Wiederaufleben der Demonstrationen in der Bundeshauptstadt ab, die bereits die letzten beiden Bundesregierungen mit FPÖ-Beteiligung begleitet hatten.
Bislang durchwachsene Regierungsbilanzen der FPÖ im Bund
Für die FPÖ wäre es die mittlerweile vierte Beteiligung an einer österreichischen Bundesregierung. Zudem hatte die Partei 1970 über ein Jahr hinweg eine Minderheitsregierung der SPÖ toleriert. Im Jahr 1983 bildete der damalige sozialdemokratische Parteichef Fred Sinowatz eine Koalition mit den Freiheitlichen unter Norbert Steger. Diese endete 1986 vorzeitig, nachdem sich in der zuvor liberalen FPÖ mit der Wahl von Jörg Haider zum Parteichef ein Rechtsruck vollzogen hatte.
Von 2000 bis 2006 war die Partei Teil einer Koalition mit der ÖVP unter Bundeskanzler Wolfgang Schüssel. Die Regierungsbeteiligung war mit erheblichen innerparteilichen Konflikten verbunden. Diese führten zur Abspaltung des „Bündnis Zukunft Österreichs“ (BZÖ) und zum Absturz der Partei auf teilweise unter vier Prozent. Nach der Konsolidierung durch Heinz-Christian Strache trat dieser 2017 in die Regierung von Sebastian Kurz ein. Die Zusammenarbeit war stabiler als in der Ära Schüssel, die Koalition zerbrach jedoch nach der Veröffentlichung des ohne Zustimmung der Beteiligten veröffentlichten „Ibiza“-Videos 2019.
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