Haitis Wiederaufbau erfordert Stärkung seiner Souveränität

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Der neugewählte Präsident Michel Martelly wird am 14. Mai die Regierung Haitis übernehmen.Foto: Thony Belizaire/AFP/Getty Images)
Von 11. Mai 2011

Georges Marie ist eine stolze und wütende haitianische Anwältin, die ihren Mann bei dem Erdbeben verlor. In der Zeit, in der sie trauerte, explodierte die humanitäre Industrie.

Sie sah mit Besorgnis, wie sich in den engen Gassen in Port-au-Prince weiße Landrover mit dem Logo einer Hilfsorganisation auf der Fahrertür stauten. Es stört sie immer noch, dass die Mitglieder der Hilfsdienste in einem Vier-Sterne-Restaurant mit Blick auf den Place Boyer speisen und tanzen. Dieser öffentliche Platz ist jetzt mit Planen überspannt, weil dort ein Teil der Millionen Menschen leben, die durch das Erdbeben 2010 obdachlos wurden.

Wie Georges Marie sagte, zahlen einige Hilfsorganisationen keine Steuern, was sie eigentlich tun müssten, um in Haiti tätig zu werden. Doch fairerweise muss man erwähnen, dass der haitianische Staat, dem es an Mitarbeitern fehlt, das möglicherweise nie verlangt hat. Andere stellen nicht wie vereinbart örtliche, sondern ausländische Mitarbeiter ein, obwohl auch Haitianer deren Aufgaben erfüllen könnten. Allerdings scheitern die Versuche vieler Entwicklungsorganisationen, örtliches Personal einzustellen oft daran, dass viele gut ausgebildete Menschen das Land verlassen. Quebec wirbt um haitianische Ärzte, die in Kuba ausgebildet wurden, und stellt ihnen auch das Flug-Ticket aus.

Meine Sprachkenntnisse sind dürftig, aber nicht so schlecht, dass ich ihre Kritik an den humanitären Beratern überhöre, weil sie kein Kreyol (haitianisches Kreolisch) sprechen und sich auf die Übersetzungen ihrer unterbezahlten, mehrsprachigen haitianischen Fahrer verlassen. Als internationaler Entwicklungsprofi hatte ich einige schwache Momente, in denen ich mit dieser seltsamen Industrie zu tun hatte. Aber nirgendwo sonst schaute ich so lange und intensiv in den Spiegel wie bei meinem Einsatz in Haiti.

Marie hat einen neuen Job. Sie übernimmt eine Stelle in der Interimskommission Haiti Recovery Commission (IHRC). Die von Bill Clinton und dem scheidenden haitianischen Premierminister Jean-Max Bellerive geleitete IHRC wird von vielen als eine nicht gewählte Parallelregierung angesehen, die von nervösen Geldgebern erfunden wurde, damit ihre Hilfsgelder vor Korruption sicher sind.

Für viele Haitianer, darunter Georges Marie, ist die IHRC ein Aushängeschild für die Entführung der Souveränität Haitis. Wird Sie der Job nicht innerlich verbrennen?, frage ich. Ich brauche das Geld, antwortet sie. Warum sie nicht in der Regierung des zum Präsidenten gewählten Michael Martelly arbeite? Sie schüttelt den Kopf. „Ich habe eine Familie zu ernähren.“

Alfredo Mena, ein in der Dominikanischen Republik geborener Vertreter des Interamerikanischen Instituts für landwirtschaftliche Zusammenarbeit (IICA) mit Haiti, schätzt, dass es in Haiti 9.000 NGOs (Nichtregierungsorganisationen) gibt. Und es wird gerne gesehen, wenn sie alle zu Haitis Entwicklung beitragen, sagte er. Aber das IICA und andere arbeiteten intensiv mit dem haitianischen Ministerium für Landwirtschaft zusammen, um einen nationalen Plan für die Ernährungssicherheit und einen Leitfaden für die landwirtschaftliche Entwicklung zu erstellen. Jede kooperierende Entwicklungsorganisation sollte diesen studieren und dafür sorgen, dass ihre Projekte einen Beitrag zur erfolgreichen Umsetzung des Plans leisten. Doch viele tun dies nicht.

Es gibt viele Widersprüche und Schwierigkeiten innerhalb einer Hilfsindustrie, die es schwer hat, Fortschritte beim Wiederaufbau zu erzielen. Die gute Nachricht ist, dass anders als noch vor ein paar Jahren fast Einstimmigkeit darüber herrscht, dass der haitianische Staat stark sein muss, um die Steuerung der Hilfsmittel sicherzustellen.
Die schlechte Nachricht ist, dass die staatlichen Kapazitäten fehlen und niemand genau weiß, wie man sie schaffen kann. Wie können Hilfsorganisationen in der Zwischenzeit verantwortungsbewusst handeln, um mit einigen funktionsfähigen öffentlichen Einrichtungen die Hilfe zu koordinieren?

Blick auf die Entwicklung aus der Sicht der Straße

Bei einem kolonialen Frühstück mit Croissants und Baguettes plauderte ich mit Georges Maries Nachbarin, Iderle Charles. Sie sagte: „Haitis Zivilgesellschaft und Regierungskapazität sind schwach. Meinem Gefühl nach verschlimmert die Hilfsindustrie dieses Problem noch.“ Sie lebte während der Duvalier-Diktatur im Exil in Mexiko- City und setzte sich aus der Ferne für die haitianische Demokratie ein.

Wir diskutierten über die MINUSTAH, jene 10.000 Mann starke UN-Schutztruppe, die nach Präsident Aristides Absetzung im Jahr 2004 ins Land gebracht wurde und auch heute noch durch Haitis Straßen patrouilliert. Nicht ein einziger Haitianer, den ich traf ich, konnte ihre Mission oder ihre Berechtigung definieren.

Obwohl die öffentliche Sicherheit formell in der Verantwortung des Staates liegt, sah ich während meiner Zeit dort nur selten haitianische Polizei. Ich sah einen Zug ruandischer Soldaten mit M-16-Gewehren, die mit ihren gepanzerten Fahrzeugen durch einen überfüllten Obstmarkt fuhren. Die Erhaltung des Friedens in Haiti ist ein begehrter Job; dafür könnte man zuhause befördert werden. Für Haitis unterbezahlte Polizisten ist es demoralisierend, dass ausländische Truppen besser ausgerüstet sind, besser bezahlt werden und ihre Aufgaben übernehmen.

Obwohl die Vereinten Nationen eine entscheidende Rolle spielen, ist es falsch, dass sie ihre Aktivitäten in Haiti so herausstellen. So kommen sie auch zu einem schlechten Ruf. Wie ich erfuhr, ist eine Dienstreise nach Haiti eine ausgezeichnete Möglichkeit, um in der UN-Bürokratie aufzusteigen. Die Haitianer, die ich traf, fragten mich, wie ein weiteres UN-Programm zur Bewertung eines Mikro-Kredit-Projekts ihre tägliche Not lindern könnte.

Iderle sagte: „Aber es wird uns nicht weiterbringen, wenn wir die Schuld auf die Hilfsindustrie schieben. Ich denke, dass die meisten von ihnen guten Willens sind. Die haitianische Regierung ist dafür verantwortlich, ihre Anstrengungen zu koordinieren und sicherzustellen, dass sie dazu beitragen, einen nationalen Plan für Demokratie und Entwicklung zu erstellen. Der Staat muss dafür sorgen, dass die Hilfsindustrie Regeln befolgt.“

Es lag nicht an uns, dass der neue haitianische Präsident schon an Glaubwürdigkeit verloren hat. Martelly wird sein Amt inmitten von Vorwürfen weit verbreiteten Wahlbetrugs übernehmen.

Die Aufgabe wird umfangreicher

„Heute gehört es zu den alltäglichen Aufgaben der Hilfsorganisationen, Haitis öffentliche Institutionen zu stärken. Darüber reden sie auch“, sagte Iderle. Paul Farmer, der stellvertretende UN-Sondergesandte für Haiti und Gründer der US-Hilfsorganisation Partners in Health, besteht auf diesem Punkt.

Über das Gremium Congressional Black Caucus sagte Farmer: „Wie kann es öffentliche Gesundheit und öffentliche Bildung ohne eine stärkere Regierung auf nationaler und lokaler Ebene geben?“ Philippe Bellerive vom Programm USAID WINNER in Haiti sagte mir: „Wir handeln nie allein, sondern arbeiten Hand in Hand mit dem Ministerium für Landwirtschaft.“

Das ist ein großer Schritt nach vorn. Es gab eine Zeit, in der das Einprügeln auf die korrupte Regierung als Sport betrachtet wurde. Entwicklungsorganisationen wurden als Haitis Retter und die Regierung nur als Hindernis angesehen.

Die Erdbebenschäden sind so groß, dass immer weniger Entwicklungsorganisationen behaupten, sie könnten den Wiederaufbau alleine schaffen. Der Wohnungsbau zum Beispiel erfordert eine starke Regierung und auch die politisch unbeliebte Anwendung der Enteignung. Gebietsaufteilungen, Landüberschreibungen und die Zuweisung von öffentlichem Land sind unerlässlich. Die Weltbank und andere Organisationen warten auf ein Signal der Regierung für das weitere Vorgehen.

Diese Institutionen können den Wunsch nach Einbeziehung des öffentlichen Sektors aber nicht mit ihrer Koordination „von Tag zu Tag“ und mit dem Angebot ihrer Dienstleistungen vereinbaren. Können angesichts dieser eklatanten Lücke im Bereich des öffentlichen Sektors und des Eifers der Entwicklungsorganisationen ausländische NGOs Haitis schwache Institutionen wirksam stärken?

Verantwortung in lokale Hände geben

NGOs und bilaterale sowie multilaterale Entwicklungsorganisationen sind wohl besser dafür geeignet, Projekte zur Entwicklung von Infrastruktur und von Einkommensmöglichkeiten zu realisieren. Es ist eine Sache, ein neues Bewässerungssystem zu unterstützen, und eine ganz andere, ein landwirtschaftliches Gremium der Regierung zu beraten. Das Herumdoktern an der Stärkung der öffentlichen Institutionen ist eine delikate Sache.

Die Wirtschaftsfachleute der Organisation USAID beanspruchen für sich, eine Wende herbeizuführen. Doch manche Landwirte wehren sich gegen die Einführung moderner Technik. Bellerive sagte: „Zurzeit sind sie stur und es ist wahr, dass wir streng sind. Wir werden ihre alten Anbaumethoden, die nicht funktionieren und sie weiterhin hungern lassen, nicht unterstützen.“

Hat es denn einen Wert, einen gut bezahlten Berater einzustellen, damit er sich mit dem Thema auseinandersetzt, wenn ein haitianischer Agrarwissenschaftler, der für das Landwirtschaftsministerium arbeitet, von einem US-Techniker gut ausgebildet wird, der das Vielfache seines Gehalts verdient? Lernt ein haitianischer Volkspolizist etwas von den besser bezahlten MINUSTAH-Streitkräften? Ich denke, dass dieses Lehren und Lernen auf kultureller Ebene eher fehlerhaft verläuft.

Wenn sich Entwicklungsorganisationen an der Stärkung der öffentlichen Einrichtungen beteiligen, brauchen wir vernünftige Richtlinien für ein gesundes Engagement. Die Organisationen sollten für eine Angleichung der Bezahlung ausländischer Helfer und ihrer Kollegen des öffentlichen Sektors sorgen und sich an die öffentlichen Entwicklungspläne auf kommunaler oder auf ministerieller Ebene halten oder sie unterstützen.

Sie sollten sicherstellen, dass die vom Staat angestellten haitianischen Arbeiter die Führung aller privaten Initiativen übernehmen und sicherstellen, dass ein erheblicher Teil der Gelder der Entwicklungsorganisationen von Haitianern verwaltet wird.

Daniel Moss ist internationaler Berater für Entwicklung und Menschenrechte und Mitwirkender bei Foreign Policy in Focus. Er schrieb diesen Artikel während seines Einsatzes in Haiti für American Jewish World Service. Die Namen von Georges Marie und Iderle Charles wurden in diesem Artikel geändert, um ihre Identität zu schützen.

Artikel auf Englisch: Haiti’s Reconstruction Requires Strengthening Haiti’s Sovereignty

 

 

 



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