Großbritannien: Wahltriumph für Labour läutet neue Ära ein – Farage ins Parlament gewählt
Wer eine kaum lösbare Aufgabe vor sich hat, der muss im Englischen einen Berg besteigen. „We have a mountain to climb“: Wir müssen einen Berg erklimmen, hat auch Keir Starmer immer wieder betont, seitdem er die britische Labour-Partei führt.
Nun haben seine Sozialdemokraten nicht nur irgendeinen Berggipfel erreicht. „Er hat gerade den Everest bezwungen und ist ins All gestartet“, so beschreibt die bekannte Reporterin Beth Rigby vom Sender Sky News das Ergebnis der britischen Parlamentswahl.
Die Schlüssel zur berühmten schwarzen Tür mit der Nummer 10 in der Downing Street gehen nach 14 Jahren konservativer Regierung wieder an Labour über. Gegen Freitagmittag dürfte König Charles III. als Staatsoberhaupt den Parteichef Starmer offiziell mit der Regierungsbildung beauftragen. Der 61-Jährige wird durchregieren können.
Labour rechnet mit 410 von 650 Sitzen
Während Labour den Nachwahlbefragungen zufolge mit 410 der 650 Sitze rechnen kann, erlitten die konservativen Tories von Premierminister Rishi Sunak ihre schlimmste Niederlage seit Beginn des 20. Jahrhunderts und stürzten auf nur 131 Sitze ab.
„Labour wird über genügend Sitze verfügen, um selbst die stärkste Oppositionsfraktion zu bilden“, scherzt der Journalist Iain Dale.
Der britische Premierminister Rishi Sunak hat die Niederlage seiner konservativen Tories bei der Unterhaus-Wahl in Großbritannien eingestanden. Die Labour-Partei habe die Wahl gewonnen, sagte Sunak am Freitag. Die Briten hätten ein klares Urteil gefällt und „ich übernehme die Verantwortung für die Niederlage“. Sunak selbst wurde in seinem Wahlkreis in Richmond im Norden Englands wiedergewählt.
Die Konservative Partei des bisherigen Premierministers Rishi Sunak ist geschlagen: Auf 131 Mitglieder schrumpft die Fraktion laut Prognose – so wenige wie noch nie und kaum mehr als ein Drittel der bisherigen Mandate. Sunak wird das aller Voraussicht nach das Amt des Vorsitzenden kosten, in der Partei werden mehrere Anwärter auf seinen Chefposten gehandelt.
Wie groß letztlich die Labour-Mehrheit sein wird, ob 20 oder 200 Mandate, spielt im parlamentarischen System Großbritanniens keine Rolle. Natürlich macht es das Regieren für Starmer einfacher.
Je geringer der Vorsprung, desto größer das Risiko, von Quertreibern in den eigenen Reihen bei strittigen Themen erpresst zu werden. Für Starmer scheint der Weg frei, seinen selbsterklärten Anspruch umzusetzen und Großbritannien durch ein „Jahrzehnt der nationalen Erneuerung“ zu führen.
Tatsächlich könnte die gewaltige Mehrheit die Risiken für den designierten Premier übertünchen. „Labour steht vor massiven politischen Herausforderungen und wird von einem Bündnis in der Wählerschaft getragen, das zwar sehr breit, aber sehr oberflächlich ist“, sagt der Politologe Anand Menon vom King’s College London. „Es ist also leicht zu erkennen, welche Gefahren sich ergeben.“
Breite Strömungen innerhalb der Labour-Partei
Starmer muss zunächst einmal alle Strömungen innerhalb der Partei bei Laune halten. Labour ist nicht einfach mit der deutschen Schwesterpartei SPD gleichzusetzen. Das Spektrum würde in Deutschland – wenn man einen Vergleich versucht – in etwa von der Linkspartei bis zum eher konservativ orientierten Seeheimer Kreis in der SPD reichen.
Der linke Flügel um Ex-Parteichef Jeremy Corbyn, der 2019 krachend gegen den damaligen konservativen Premier Johnson verlor und anschließend von Starmer aus der Partei gedrängt wurde, dürfte aufbegehren, wenn Labour zu sehr in die politische Mitte rückt. Den Platz dafür haben die Konservativen mit ihrem starken Rechtskurs der vergangenen Jahre freigegeben.
Vor allem aber muss Starmer nun die Briten überzeugen, die nicht seinetwegen für Labour gestimmt haben, sondern um die Konservativen nach 14 Jahren Regieren abzustrafen. Nicht Labour wurde gewählt, die Tories wurden abgewählt, urteilte Professor John Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow, der wohl bekannteste Umfrageforscher im Land, schon vor der Prognose.
Große Mehrheit trotz recht weniger Stimmen
Im britischen Mehrheitswahlrecht gelingt nur dem Sieger eines Wahlkreises der Sprung ins Unterhaus. Stimmen für die unterlegenen Kandidaten haben keine Auswirkungen. Tatsächlich aber geht es durchaus eng zu: Obwohl Labour im Unterhaus fast eine Zweidrittelmehrheit erreichen dürfte, hat die Partei wahrscheinlich deutlich unter 50 Prozent der Stimmen erhalten.
Das zeigt sich auch im Ergebnis der kleineren Parteien. Die Liberaldemokraten können laut Prognose die Zahl ihrer Sitze verfünffachen, die rechte Reform UK kommen aus dem Stand auf 13 Abgeordnete – deutlich mehr als erwartet.
„Labour muss in der Regierung hart dafür arbeiten, die Wähler an sich zu binden, die 2024 für Starmer gestimmt haben. Weil sie nicht Labour wählen, sondern die Tories loswerden wollten“, kommentiert Sky-News-Reporterin Rigby.
Gewaltige Herausforderungen
Das dürfte schwierig werden. Das Land steht vor enormen Herausforderungen. Der staatliche Gesundheitsdienst NHS liegt am Boden, es gibt viel zu wenig Wohnraum, die maroden Gefängnisse sind überfüllt, es herrscht akuter Fachkräftemangel, der Brexit ist noch immer nicht überwunden, das Vertrauen in die Politik erschüttert. Die Liste ließe sich noch lange fortführen.
Nur gibt es eigentlich kein Geld, um Verbesserungen zu finanzieren und notwendige Investitionen anzuschieben. Labour will Steuererleichterungen für Privatschulen streichen, Steuerschlupflöcher für wohlhabende Ausländer schließen sowie die Übergewinnsteuer für Energieunternehmen erhöhen.
Für Privathaushalte, die ohnehin unter der höchsten Steuerlast seit Jahrzehnten klagen, soll sich aber nichts ändern. Auf Starmer und Labour warten nach der ersten Gipfelbesteigung noch viele weitere Berge.
Brexit-Verfechter Farage ins britische Parlament gewählt
Der Brexit-Verfechter Nigel Farage ist bei seinem achten Versuch ins britische Parlament gewählt worden. Er gewann am Freitag einen Sitz für seine Partei Reform UK. Sein Plan sei es, im Laufe der kommenden Jahre eine nationale Massenbewegung aufzubauen, sagte Farage in einer Rede.
Zwar war Farage mit seinen vorherigen Versuchen, Abgeordneter im britischen Parlament zu werden, gescheitert. Er saß jedoch bereits für die Brexit-Partei Ukip, die Vorläuferpartei von Reform UK, im EU-Parlament in Brüssel.
Nachwahlbefragungen zufolge kommt Reform UK bei der Unterhaus-Wahl auf 13 Mandate. Damit würde die Partei noch deutlich besser abschneiden als in Umfragen vorausgesagt. Weiterer großer Gewinner ist den Nachwahlbefragungen zufolge die Labour-Partei, die demnach einen Erdrutschsieg errang. (dpa/afp)
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