Gesetz zur Chatkontrolle vorerst gestoppt
Der Rat der Europäischen Union hat die Abstimmung über die umstrittene Chatkontrolle vertagen müssen. Das für die Sitzung am Donnerstag, 20. Juni 2024, vorgesehene Thema wurde gestern kurzfristig von der Tagesordnung genommen.
Zuletzt hatte es in Brüssel so ausgesehen, als sei zumindest eine vorläufige Einigung auf die Chatkontrolle möglich, deshalb war gestern eine Abstimmung geplant. Hintergrund waren Zugeständnisse an Frankreich, das den EU-Beschluss zusammen mit Deutschland und anderen Ländern bisher verhindert hatte. Kurzfristig hieß es dann aber vom belgischen EU-Ratsvorsitz, es gebe nicht die nötige Mehrheit für eine Einigung.
Mit Bild-Kontrolle Kinder vor Missbrauch schützen?
Die EU-Kommission dringt schon länger auf ein schärferes Vorgehen gegen Kindesmissbrauchsdarstellungen im Internet. Innenkommissarin Ylva Johansson hatte im Mai 2022 vorgeschlagen, Internet-Plattformen gesetzlich zum massenhaften Ausspähen privater Chatnachrichten zu verpflichten, um Bilder von Kindesmissbrauch aufzuspüren. Bisher melden Online-Dienste wie Facebook, Instagram oder Snapchat anstößige Funde auf freiwilliger Basis nach Brüssel.
Das geplante Gesetz (hier die Vorlage) ermächtigt ebenfalls zu einer fast lückenlosen Kontrolle versendeter Bilder und Videos praktisch aller Messenger-Dienste wie WhatsApp, Signal, Threema oder Telegram.
Europas Einstieg in flächendeckende Überwachung
Datenschützer sehen hinter den Plänen einen Generalverdacht gegen Bürger. Der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber hat gestern seine Kritik erneuert: „Die sogenannte Chatkontrolle bietet kaum Schutz für Kinder, wäre aber Europas Einstieg in eine anlasslose und flächendeckende Überwachung der privaten Kommunikation. Es wäre ein brandgefährliches Signal in die verkehrte Richtung“, sagte Kelber dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“. Und weiter:
Viele Menschen würden die Technik aus Angst vor Überwachung nicht mehr nutzen, es würden unnötig große Sicherheitsrisiken geschaffen und Privatsphäre-schonende Technologien benachteiligt.“
Ein „flächendeckendes und anlassloses Auslesen privater Kommunikation“ müsse verboten werden, forderte Kelber.
Wie Epoch Times berichtete, kritisierte der juristische Dienst die geplante Kontrolle scharf. In einem internen Gutachten, das via Leak an Medien ging, bezweifelten die Juristen die Rechtmäßigkeit der Verordnung. Die Pläne zur Chatkontrolle würden „den Kerngehalt des Grundrechts auf Achtung des Privatlebens“ verletzten, heißt es darin. Dies würde der Europäische Gerichtshof (EuGH) nicht dulden.
Zuletzt appellierten 36 Politiker aus Europa, gegen die „Chatkontrolle“ zu stimmen. Insgesamt haben 22 deutsche Abgeordnete den Brief unterzeichnet, darunter Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Konstantin Kuhle (beide FDP) sowie Konstantin von Notz und Emilia Fester (beide Grüne). „Netzpolitik.org“ hat ihn auf seiner Seite verlinkt.
„Wir setzen uns für den Schutz des Rechts auf anonyme und pseudonyme Nutzung des Internets sowie für die Stärkung der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ein“, heißt es in dem Brief, in dem die Verfasser alle beteiligten Regierungen „dringend dazu aufrufen“, den Plänen nicht zuzustimmen.
Bedenken hatte hierzulande auch Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP). Am Tag vor der Sitzung positionierte er sich auf X eindeutig dagegen. Chatkontrolle sei mit einem liberalen Rechtsstaat nicht vereinbar. Bundesinnenministerin Nancy Faeser lehnt eine solche Kontrolle ebenfalls ab. „Wir müssen Kinder auch mit europäischen Instrumenten vor sexueller Gewalt schützen, aber zielgerichtet und rechtsstaatlich“, verkündete sie auf ihrem X-Account.
Piratenpartei sieht das Ende des Briefgeheimnisses
Die Piratenpartei warnt ebenfalls vor den Auswirkungen einer Chatkontrolle. So fürchtet der Europaabgeordnete Patrick Breyer ein Ende des Briefgeheimnisses im Netz und ruft auf der Internetseite der Piraten zum Protest auf.
Komme die Chatkontrolle durch, „wird sie der ständigen Überwachung unserer privaten Chats für jegliche Zwecke Tür und Tor öffnen, wie es Europol bereits gefordert hat. Der Logik der Chatkontrolle folgend wäre das verdachtslose Öffnen und Scannen aller unserer Briefe der nächste Schritt“, so Breyer.
Mehr Meldungen produzieren mehr Fehlalarme
Die EU-Kommission wolle Messenger und Online-Plattformen wie Facebook dazu verpflichten, private Nachrichten ihrer Nutzer zu kontrollieren. Kinder sollen dadurch vor sexualisierter Gewalt geschützt werden. Zu den größten Befürworterinnen gehöre die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson, die laut „Netzpolitik.org“ in dem Zusammenhang von einer „Online-Pandemie“ mit vielen Millionen Fällen spricht.
Sie beruft sich dabei auf das US-amerikanische National Center for Missing and Exploited Children (NCMEC). Dessen Meldestelle verzeichnete einen Anstieg von Missbrauchsfällen von rund 29,4 Millionen (2021) auf 36,2 Millionen im vergangenen Jahr. Aus der Zahl der Meldungen leiten Johansson und andere Befürworter der Chatkontrolle ab, dass auch die Zahl der tatsächlich verübten Straftaten massiv gestiegen sei.
Das Bundeskriminalamt hat allerdings festgestellt, dass mehr Meldungen auch mehr Fehlalarme produzieren. Die Zahl der ermittelten Fälle nach deutschem Strafrecht ist nicht gestiegen. Patrick Breyer hat dies auf Anfrage beim Innenministerium erfahren, schreibt „Netzpolitik.org“ weiter. In der Antwort hieß es, dass die Zahl der Meldungen zwar gestiegen sei, die der relevanten Fälle aber leicht rückläufig war.
Zahl der Bilder verzehnfacht nach Gesetzesänderung
Die „ARD“ spricht in einem Kommentar von einem vertagten Kinderschutz. Von einer Verzehnfachung gefundener Bilder mit Darstellungen von Missbrauch ist die Rede, allerdings wird weder Zahl noch Quelle genannt. Im Juni 2023 nannte der „Norddeutsche Rundfunk“ (NDR) ähnliche Zahlen, als er über eine Senatsanfrage der CDU berichtete. Die Zahl der Fälle sei innerhalb von fünf Jahren (ab 2018) um das Zehnfache gestiegen – von 107 auf 1.014. Die Polizei – so der Sender damals weiter – gehe aber nicht von einer Zunahme bei der Herstellung solcher Aufnahmen aus. Vielmehr liege das an den Aufklärungserfolgen „im Dunkelfeld – vor allem im Internet“.
Anzumerken ist die Tatsache, dass 2021 der Paragrafen 184b verschärft wurde. Mit dem „Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder“ veranlasste die damalige Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD), dass „Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornografischer Inhalte“ mit mindestens ein Jahr Freiheitsentzug bestraft wurde. Dies hatte juristisch unter anderem die Konsequenz, dass es sich um Verbrechenstatbestände handelte. Vorher wurden minderschwere Fälle als Vergehen geahndet.
Bei Vorliegen eines Anfangsverdachts auf Verbrechen haben Staatsanwälte zu ermitteln. Sogenannte minderschwere Fälle sind nicht vorgesehen. Auch gibt es die Möglichkeit, Ermittlungsverfahren wegen Geringfügigkeit einzustellen, lediglich im Bereich der Vergehen.
De facto mehren sich jedoch Fälle, in denen bereits Minderjährige unter 14 Jahren solche Aufnahmen von sich selbst anfertigen und versenden. Diese tauchen anschließend häufig in privaten Unterhaltungen oder sogar Klassenchats auf.
Fälle zweifelhafter „Mutproben“ von Teenagern oder besorgter Eltern und Lehrer hatte auch Minister Buschmann vor Augen, als er im letzten Jahr einen Gesetzentwurf präsentierte, um die Mindeststrafe für Besitz und Verbreitung von Kinderpornografie wieder zu senken.
Threema will EU im Falle einer Chatkontrolle verlassen
Kritische Worte kommen auch von Betreibern verschiedener Messenger. So schrieb Meredith Whittaker, Präsidentin der US-Stiftung, die hinter der App Signal steht, in einer Mitteilung: „Das massenhafte Scannen von privater Kommunikation untergräbt die Verschlüsselung grundlegend. Dabei sei es unerheblich, ob man es Hintertür, Vordertür oder Upload-Moderation nenne. „Damit werden Einfallstore geschaffen.“ Die Aufhebung der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, „insbesondere in einer geopolitisch so brisanten Zeit, ist ein katastrophales Unterfangen“.
„Die Chatkontrolle muss gestoppt werden“ wird auf der Internetseite des Messengers Threema gefordert. Eine Umsetzung wäre „verheerend“. Unter dem Vorwand des Kinderschutzes könnten EU-Bürger dann nicht mehr sicher und privat im Internet kommunizieren.
Die Chatkontrolle gehe mit der massiven Verschlechterung der Datensicherheit einher. Berufsgruppen wie Anwälte, Ärzte und Journalisten wären nicht mehr in der Lage, ihrer Schweigepflicht beziehungsweise dem Quellenschutz im Internet nachzukommen, heißt es weiter.
Massenüberwachung mit Demokratie nicht vereinbar
Die Privatsphäre sei fundamentales Menschenrecht. Dies erkenne auch die EU an, schreibt Threema und verweist auf Artikel 7 der Charta der Grundrechte, in dem es heißt: „Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.“ Mit der Chatkontrolle würde die EU dieses Grundrecht verletzen.
Wie die Chatkontrolle von Dienstbetreibern konkret umgesetzt werden müsste, sei noch unklar. Ebenso sei es fraglich, „ob eine solch offensichtliche Verletzung des Rechts auf Privatsphäre vor europäischen Gerichten Bestand hätte“.
Fest stehe jedoch, „dass es nie eine Threema-Version geben wird, die ihre Nutzer in irgendeiner Form abhört oder überwacht“. Der Messenger sei als privates und anonymes Kommunikationsmittel entwickelt worden. Sollte es nicht mehr möglich sein, einen solchen Dienst in der Europäischen Union anzubieten, „sähen wir uns gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen“. Verschiedene Möglichkeiten, die Chatkontrolle zu verhindern, würden geprüft. „Sollte es keinen anderen Weg geben, werden wir andere Kommunikationsdienste aufrufen, die EU mit uns zu verlassen“, betont das Unternehmen.
„Unsere Briefe lesen, noch bevor wir sie überhaupt in den Umschlag stecken“
Der Verband der Internetwirtschaft (eco) kritisiert das EU-Vorhaben ebenfalls. Alexandra Koch-Skiba, Leiterin der eco-Beschwerdestelle, betont: „Der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt ist ein wichtiges Ziel, für das sich eco seit über 25 Jahren mit den Aktivitäten seiner Beschwerdestelle stark engagiert. Dennoch bzw. gerade deshalb bewerten wir den Verordnungsentwurf der EU-Kommission kritisch.“
Die darin enthaltenen Vorgaben führten zu einer allgemeinen Überwachung und konterkarierten wichtige Ende-zu-Ende Sicherheitstechnologien. „Die geforderte Einwilligung in clientseitiges Scannen stellt eine erzwungene Zustimmung dar, die mit EU-Recht unvereinbar ist. Gleichzeitig ist der Mehrwert für eine effektive Bekämpfung illegaler Internetinhalte sehr fraglich“, so Koch-Skiba weiter.
Die Behauptung im Vorschlag, dass clientseitiges Scannen die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung nicht gefährde, nennt sie irreführend. Technisch gesehen sei es unmöglich, jedes hochgeladene Bild zu scannen, ohne die Verschlüsselung zu beeinträchtigen. „Und faktisch bedeutet der Vorschlag nichts Anderes, als würde jemand unsere Briefe lesen, noch bevor wir sie überhaupt in den Umschlag stecken konnten. Die Verordnung würde so gravierend Freiheitsrechte beschneiden und irgendwann vor dem EuGH scheitern“, glaubt Koch-Skiba.
Chatkontrolle nur vertagt?
Vom Tisch ist das Thema Chatkontrolle nicht: Für die Mitgliedsländer bleibe es Priorität, Kinder vor „widerwärtigen Verbrechen“ zu schützen, hieß es von Belgien, das bis Ende des Monats die Ministerräte leitet. Das Dossier dürfte nun bei Ungarn landen, das am 1. Juli den rotierenden EU-Ratsvorsitz übernimmt.
Die Unionsfraktion im Bundestag befürwortet einen neuen Anlauf. „Die Ampel präsentiert sich beim Thema Kinderschutz im digitalen Raum als Total-Blockierer, ohne aber zu erklären, was sie denn stattdessen für einen besseren Kinderschutz vorschlägt“, sagte ihr rechtspolitischer Sprecher, Günter Krings, dem RND. Die juristische Ausgestaltung einer Chatkontrolle müsse mit geltenden europäischen und deutschen Grundrechten sowie der EuGH-Rechtsprechung selbstverständlich vereinbar sein, so Krings. „Dafür bieten die Vorschläge der EU-Kommission und der belgischen Ratspräsidentschaft eine gute Grundlage.“
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