Geheimer Vertragsentwurf: Frieden für die Ukraine war 2022 in greifbarer Nähe

Hätte der Westen der Ukraine Rückendeckung für einen Friedensvertrag mit Russland im April 2022 gegeben, hätte dies dem Land Leid, Zerstörung und den Verlust vieler Menschenleben erspart. Die Verhandlungsposition Kiews war zudem stärker, als es heute der Fall wäre.
Titelbild
Der Chef-Unterhändler der Ukraine, Mykhailo Podolyak (mitte) in Istanbul am 29. März 2022.Foto: YASIN AKGUL/AFP via Getty Images
Von 27. April 2024

Das „Wall Street Journal“ (WSJ) hatte bereits im März einen ihm zugespielten Vertragsentwurf für einen Frieden in der Ukraine aus dem April 2022 veröffentlicht. Mittlerweile ist auch die „Welt“ in den Besitz des Dokuments gelangt und konnte dieses eigenständig auswerten. Die Analyse bestätigt, was bereits zuvor aus den Berichten des WSJ hervorgegangen war: Beide Seiten waren zu deutlichen Zugeständnissen bereit – und die Ukraine war in einer stärkeren Verhandlungsposition, als sie es heute wäre.

Türkei bot Ukraine und Russland umfassende Unterstützung an

Bereits unmittelbar nach Beginn der russischen Militäroperation im Februar 2022 in der Ukraine, die auch den Versuch einer Einnahme der Hauptstadt Kiew beinhaltete, hatte sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan als Vermittler ins Spiel gebracht. Die Türkei, die NATO-Mitglied ist und sowohl zu Russland als auch zur Ukraine gute Beziehungen pflegt, organisierte Gespräche in Istanbul.

Erdoğan ermahnte die Konfliktparteien nachdrücklich dazu, zu einem Ergebnis zu kommen. Der damalige türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu stellte sich als permanenter Ansprechpartner für beide Seiten zur Verfügung, um den Fortgang zu unterstützen.

Am 15. April 2022 waren die Verhandlungen so weit gediehen, dass über wesentliche Punkte bereits Einigung erzielt worden sei. Diesen Eindruck bestätigt auch der Bericht der „Welt“. Über die noch offenen Fragen sollten die Präsidenten Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj persönlich verhandeln.

Von Maximalforderungen zunehmend abgerückt

Ursprünglich war Russland offenbar mit der Erwartung in die Verhandlungen gegangen, der Ukraine die Kapitulationsbedingungen zu diktieren. Als sich abzeichnete, dass der Widerstand gegen eine Einnahme Kiews größer ausfiel als erwartet, rückte der Kreml jedoch von einigen Maximalforderungen ab. Russland konzentrierte sich auf einige zentrale Punkte, die man in jedem Fall erreichen wollte.

Im Gegenzug war man bereit, einer Garantievereinbarung bezüglich der territorialen Integrität der Ukraine zuzustimmen – nachdem Putin und Selenskyj einen aktualisierten Grenzverlauf vereinbart hätten. Bezüglich der Krim wäre der Kreml nicht verhandlungsbereit gewesen, die Ukraine wollte deren Status in zehn bis fünfzehn Jahren neu verhandeln. Im Donbass sollte der Grenzverlauf jedoch ausgehandelt werden. Zudem hätte Moskau grünes Licht für einen Beitritt Kiews zur EU gegeben.

Der zentrale Punkt, auf den man in Moskau besonderen Wert gelegt hätte, wäre in Artikel 1 verankert gewesen. Die Ukraine hätte ihre „permanente Neutralität“ erklärt – und in 13 Unterpunkten wäre deren Reichweite definiert worden.

Kreml forderte auch Garantien für russische Sprache und Entnazifizierung

Kiew hätte sich zum dauerhaften Verzicht auf eine Mitgliedschaft in jeglicher Militärallianz verpflichtet. Selenskyj hätte zusagen müssen, dass die Ukraine zu keiner Zeit Atomwaffen entwickeln, erhalten oder erwerben würde. Zu keiner Zeit dürfte das Land ausländische Waffen und Truppen auf seinem Territorium erlauben. Auch seine militärische Infrastruktur sowie See- und Flughäfen hätten ausländische Militärs zu keiner Zeit nutzen dürfen.

Russland forderte zudem, Russisch zur zweiten Amtssprache in der Ukraine zu machen – offenbar um diesen Mindeststandard für russische Muttersprachler zu erhalten, die nach der neuen Grenzziehung in Kiews Machtbereich verblieben wären. Zudem sollten gegenseitige Sanktionen wegfallen und die Ukraine sollte Klagen vor internationalen Gerichten gegen Russland fallen lassen.

Ein weiterer Punkt wäre die Verpflichtung der Ukraine zur Entnazifizierung gewesen. Offenbar nach dem Vorbild des Verbotsgesetzes gegen nationalsozialistische Wiederbetätigung, zu dessen Erhalt sich Österreich im Staatsvertrag 1955 verpflichtet hatte, solle auch Kiew „Faschismus, Nazismus und aggressiven Nationalismus“ gesetzlich verbieten lassen. Die Führung in der Ukraine wollte diese flankierenden Maßnahmen nicht ohne Weiteres akzeptieren.

Russland wollte Mächte des UN-Sicherheitsrats in Beistandsgarantie einbinden

Die schwierigsten Verhandlungspunkte waren zum einen die Frage der Garantie, zum anderen die Stärke der ukrainischen Armee. Anders als im Budapester Memorandum von 1994 sollte es sogar umfassende Beistandsgarantien bis zu einer Beistandsverpflichtung geben, sollte die Ukraine angegriffen werden.

Die fünf ständigen Mitglieder des UN-Weltsicherheitsrats sollten demnach dafür verantwortlich sein – entweder gemeinsam oder einzeln. Innerhalb von drei Tagen sollte die Beistandsverpflichtung greifen. Russland wollte sich allerdings ein Vetorecht sichern. Neben Istanbul war auch Zoom Schauplatz von Verhandlungen, die diese Fragen zum Thema hatten.

Die USA, China, Großbritannien und Frankreich hätten den Garantien allerdings noch zustimmen müssen. Außerdem hatte Kiew noch die Türkei als weitere Garantiemacht beiziehen wollen, Russland zusätzlich Belarus. Für die Ukraine wäre das ein Erfolg gewesen, immerhin hätte der Kreml damit einem Schutzmechanismus nach NATO-Vorbild zugestimmt, in den auch die USA involviert gewesen wären.

Divergierende Positionen auch über künftige militärische Stärke der Ukraine

Umstritten war auch der „Anhang 1“, der die Stärke der ukrainischen Armee betraf. Russland wollte diese auf 85.000 Soldaten reduzieren – die Ukraine bot 250.000 an. Derzeit steht eine Million Ukrainer unter Waffen. Zudem sollte die Summe der Panzer und gepanzerten Fahrzeuge nach dem Willen des Kremls auf 342 beziehungsweise 1.029 begrenzt werden. Kiew wollte bis zu 800 beziehungsweise 2.400 akzeptieren.

Ähnliche Auffassungsunterschiede gab es bezüglich der Anzahl und Reichweite von Mehrfachraketenwerfern, Mörsern, Panzerabwehrraketen sowie der Anzahl von Kampfjets und Kriegsschiffen. Diese wären jedoch kaum unlösbare Aufgaben gewesen.

Ein Mitglied der damaligen Verhandlungsdelegation äußerte der „Welt am Sonntag“ gegenüber, der damalige Vertragsentwurf sei „der beste Deal, den wir hätten haben können“. Mittlerweile ist die Zahl der Todesopfer durch die Eskalation der Kampfhandlungen auf bis zu 500.000 angestiegen – und die militärische Lage der Ukraine hat sich seither verschlechtert.

Unklarheit über letztendlichen Grund des Scheiterns

Über den genauen Grund für das Scheitern der Verhandlungen herrscht nach wie vor Rätselraten. Eine Theorie lautet, dass der später geschasste britische Premier Boris Johnson am 9. April nach Kiew gereist sei. Dort habe er Selenskyj aufgefordert, „nichts mit Putin“ zu unterschreiben und die Kämpfe fortzusetzen.

Der frühere Selenskyj-Berater Oleksij Arestowytsch erklärte hingegen in einem Interview mit „Unherd“, das Bekanntwerden des Massakers von Butscha habe den Präsidenten davon Abstand nehmen lassen. Eine mögliche Erklärung wäre auch, dass nicht alle westlichen Mitgliedstaaten des UN-Sicherheitsrats bereit gewesen wären, die Sicherheitsgarantien zugunsten der Ukraine zu gewährleisten.

 



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion