Französischer Experte Gilles Kepel: „Dschihadismus strebt gezielt Bürgerkrieg in Europa an“ – UN-Migrationspakt als falsches Signal zur falschen Zeit

Gilles Kepel, ein französischer Islamwissenschaftler, hat sich in einem Interview erneut gegen Thesen gewandt, Anschläge wie jene in Straßburg hätten „nichts mit dem Islam zu tun“. Der Dschihadismus, so sagt er, strebe gezielt einen Bürgerkrieg gegen die „Ungläubigen“ in Europa an.
Titelbild
Muslime beim Gebet in einer Berliner MoscheeFoto: über dts Nachrichtenagentur
Von 31. Dezember 2018

Der französische Islamwissenschaftler Gilles Kepel beschäftigt sich bereits seit Ende der 1980er Jahre schwerpunktmäßig mit Radikalisierungstendenzen in der islamischen Welt und in der islamischen Einwanderercommunity europäischer Staaten. Er ist unter anderem Autor des Buches „Terror in Frankreich“, das infolge mehrerer blutiger Anschläge in den letzten Jahren in Frankreich in den Fokus des öffentlichen Interesses rückte.

Der jüngste Terrorakt in Straßburg hat die mehrere Jahre alte Kontroverse zwischen ihm und dem Politikwissenschaftler Olivier Roy neu angefacht, deren Kern die Frage nach der tatsächlichen Bedeutung der religiösen Komponente im radikal-islamischen Terrorismus ist.

Roy vertritt im Wesentlichen die Auffassung, der Islam sei ein bloßes Branding, dessen sich ein Entfremdungs- und Radikalisierungsprozess bestimmter Personen bediene, der nicht religiös begonnen habe und der vor allem psychologisch zu erklären sei. Die Konsequenz dieser Einschätzung wäre, dass Debatten über den Islam selbst oder den Umgang mit Muslimen in westlichen Staaten fruchtlos wären, so sie das Ziel verfolgen, Radikalisierung und politischem Extremismus gegenzusteuern.

Eher Nihilisten als Gläubige?

Der radikale Islam sei Roy zufolge ein austauschbares Dach für die Radikalisierung und die Gewalt, die in anderem Kontext die äußere Gestalt einer links- oder rechtsextremistischen Bewegung annehmen könne. Der Islamismus in Europa sei demnach im Grunde eine Form der Jugendrevolte, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen selbst fundamentalistischen Auslegungsformen des Islam und islamistisch motivierter Gewalt bestehe demnach nicht.

Die Akteure seien selbst eher Nihilisten, sie strebten nicht nur einen Bruch mit der westlichen Gesellschaft an, sondern auch mit ihrer Elterngeneration – auch wenn diese fromm sei. Roy verwies in diesem Zusammenhang unter anderem auf die Tatsache, dass bei fast allen dem IS oder anderen Terrorgruppen zugehörigen Terroristen der letzten Jahre die Religion im Elternhaus kaum eine Rolle gespielt habe. Sie hätten auch selbst vor ihrer Hinwendung zum Islamismus ein areligiöses Leben geführt und manche Dschihad-Touristen mussten sich vor ihrer Reise nach Syrien Anfängerliteratur wie „Islam für Dummies“ bestellen, weil sie von religiösen Begrifflichkeiten des Islam zuvor keine Ahnung gehabt hätten.

Für Kepel hingegen sind solche Überlegungen Ausdruck des Versagens dabei, sich in die Denkschemata von Dschihadisten hineinzuversetzen. Er sieht sehr wohl einen Zusammenhang mit Vorgängen in der islamischen Welt selbst, und der radikal-islamische Terrorismus ist für ihn ein Ausdruck eines Krieges innerhalb des Islams selbst – weniger einer eines Krieges zwischen dem Islam und dem Westen.

„Einsame Wölfe“ kommen nicht aus dem luftleeren Raum

Im Interview mit „Le Point“ erneuerte Kepel, ohne Namen zu nennen, seine Kritik an dem Ansatz Roys und ähnlich gesinnter Forscher. Auf die Frage, ob er denke, das Reservoir an dschihadistischen Schläfern im Land sei durch die Sicherheitsbehörden gut erfasst, antwortete Kepel:

„Das Problem ist, dass seit dem Verschwinden der allgemeinen Informationen die Sammlung von ‚schwachen Signalen‘ erheblich reduziert wurde. Dazu kommt die generelle Uninformiertheit über das Denken von Dschihadisten, und schon können Sie verstehen, warum Soziologen, die in Anbetracht eines Falles wie Chekatt [Attentäter des jüngsten Anschlages von Straßburg] erklären, das habe alles ‚nichts mit dem Islam zu tun‘, bei unserer Regierung und bei bestimmten blauäugigen Redaktionen so viel Erfolg haben: Mit der Darstellung ihrer eigenen Unwissenheit bestätigen sie die Gewissheiten ihrer inkompetenten Gesprächspartner.“

Sinnbildlich dafür sei das Agieren der französischen Geheimdienste im Fall des im Vorjahr wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilten Abdelkader Merah, des Bruders des Haupttäters in der Anschlagsserie in der Region Midi-Pyrénées des Jahres 2012, Mohammed Merah. Die Dienste hatten bei dieser Gelegenheit ihre These vom „einsamen Wolf“ wiederholt, der die Polizei vor den Terrorakten von Toulouse in die Irre geführt hätte. Tatsächlich sei Mohammed Merah durch sein salafistisches Familiennetzwerk sozialisiert und systematisch auf eine Terrorkarriere vorbereitet worden.

Anschlagsziele sollen möglichst viele „Ungläubige“ treffen

Die Vernachlässigung des radikalen Islamismus als Grundlage späterer Terrorakte, wie sie sich in der Theorie von den „Einsamen Wölfen“ manifestiere, habe dazu geführt, dass die Polizei völlig unvorbereitet gewesen wäre, als später die Charlie-Hébdo-Morde stattfanden. Sie berge aber auch das Risiko eines weiteren tiefgreifenden Versagens in sich, indem, so Kepel, auch die Bemühungen zur „Deradikalisierung“ in den Strafvollzugsanstalten „hauptsächlich von Psychologen durchgeführt wurde, die die soziologischen, doktrinalen und kulturellen Realitäten des Dschihadismus nicht kennen“.

Dass wie im Fall der Anschläge von Paris das Nachtleben oder wie bei den Anschlägen von Berlin und Straßburg Weihnachtsmärkte ins Visier genommen wurden, sei aus der Ideologie und Logik der Dschihadisten heraus eindeutig zu begründen – es gehe ihnen darum, gegen die „Feste der Ungläubigen“ oder deren als „haram“ eingestufte Gewohnheiten zu kämpfen und dabei sicher zu sein, dass dort keine guten Gläubigen getötet werden. Wo dies aber geschehe, wie in Nizza oder auch in Straßburg, wo das erste Todesopfer ein afghanischer Einwanderer war, seien dies Kollateralschäden, die man auch gerne in Kauf nehme.

Bereits 2016 hatte Kepel in einem Interview mit der „Welt“ erklärt, dass die dritte Generation europäischer Dschihadisten eine Strategie der Spannung verfolge. Durch möglichst brutale Anschläge solle demnach ein Klima der generellen Feindseligkeit gegenüber Muslimen hervorgerufen werden, die auch die gesetzestreue und loyale Mehrheit unter diesen zu spüren bekomme. In weiterer Folge würden diese radikalisiert und am Ende solle ein Bürgerkrieg stehen. Langfristiges Ziel der Terroristen sei es, auf den „Ruinen des alten Kontinents“ Europa eine Art Kalifat zu errichten.

UN-Migrationspakt als falsches Signal zur falschen Zeit

Gegensteuern könne man der Entwicklung nur durch einen klugen Mix aus Bildungs- und Sicherheitspolitik, deren Ziel es sein müsse, die Brüche innerhalb der westlichen Gesellschaften zu heilen. Intellektuellen, Geistlichen und Islamverbänden  käme die Aufgabe zu, radikale Interpretationen des Islam deutlicher denn je zurückzuweisen. Eine noch schärfere und pauschale Konfrontationshaltung gegenüber dem Islam, wie sie die radikale Rechte fordere, würde hingegen dem Kalkül der islamischen Extremisten in die Hände spielen.

Der UN-Migrationspakt und die Art und Weise, wie die Regierung diesen verteidigt, hält Kepel in der derzeitigen Lage für verfehlt und mit Blick auf die bevorstehenden EU-Wahlen für kontraproduktiv. Gegenüber Le Point erklärt er:

„Wenn man sie [die Zuwanderung] in den Augen bedeutender Teile der Wählerschaft nicht in den Griff bekommt, hat der Rassemblement National [von Marine Le Pen] große Aussichten für die Europawahlen im kommenden Mai. Wir sehen es bei der Kampagne zum ‚Pakt von Marrakesch‘, der unbeholfen verteidigt wird und der als Verzicht auf die nationale Souveränität und Signal der unkontrollierten Öffnung der Grenzen für Migrationsströme wahrgenommen wird…“

 



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