EU-Parlament lehnt Gipfel-Einigung für nächsten EU-Haushalt ab
Die Abgeordneten lehnten den Gipfelkompromiss über ein 1,8 Billionen Euro schweres Finanzkonzept am Donnerstag vorerst ab und forderten Nachverhandlungen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen äußerte Verständnis für den Unmut, mahnte aber, dass von der Entscheidung zum Haushalt auch die milliardenschweren Corona-Hilfen abhingen.
In einer am Donnerstag in einer Sondersitzung mehrheitlich beschlossenen Resolution der Abgeordneten heißt es, man könne der politischen Einigung über den mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) 20212027 in seiner derzeitigen Fassung nicht zustimmen. In der Resolution wird weiter kritisiert, dass das Erreichen „im allgemeinen Interesse liegender gemeinsamer Lösungen“ allzu häufig durch das „ausschließliche Festhalten an nationalen Interessen und Standpunkten“ aufs Spiel gesetzt werde. Die Kürzungen im MFR liefen „den Interessen der EU zuwider“.
Das Parlament werde keine vollendeten Tatsachen absegnen und sei dazu bereit, die Zustimmung zum MFR zu verweigern, heißt es in dem Entschließungsantrag weiter, den Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale, Grüne und Linke gemeinsam eingebracht hatten. Auch beim Thema Rechtsstaatsklausel äußerten die Abgeordneten Kritik. Die Bemühungen der Kommission und des Parlaments, die Achtung der Rechtsstaatlichkeit, der Grundrechte und der Demokratie zu garantieren, seien durch die Gipfelbeschlüsse „nicht hinreichend unterstützt“ worden, heißt es.
Die EU-Staats- und Regierungschefs hatten sich am Dienstag nach mehr als viertägigen Verhandlungen auf ein circa 1,8 Billionen Euro schweres Finanzpaket geeinigt. Der nächste siebenjährige Haushaltsrahmen soll 1.074 Milliarden Euro umfassen, das Hilfsprogramm gegen die Folgen der Coronakrise 750 Milliarden Euro. Das EU-Parlament wird voraussichtlich im September über das Paket abstimmen.
Problem Rechtsstaatlichkeit
Wie auch die EU-Kommission wollen die Abgeordneten, dass EU-Ländern in Fällen von Verstößen gegen rechtsstaatliche Prinzipien die Mittel aus Brüssel gekürzt werden können. Die Gipfeleinigung sieht diese Möglichkeit grundsätzlich vor, auf Druck von Polen und Ungarn wurden die Details des sogenannten Rechtsstaatsmechanismus aber nicht verabschiedet.
Weitere gesetzgeberische Arbeiten sind dafür nun nötig. Polen und Ungarn, die beide seit Jahren wegen der Untergrabung von Werten wie der Unabhängigkeit der Justiz und der Pressefreiheit in der EU am Pranger stehen, haben angekündigt, diese Bestrebungen weiterhin blockieren zu wollen.
Nach der Einigung über den EU-Rechtsstaatsmechanismus hatte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban die Kritik an der rechtsstaatlichen Verfassung seines Landes als „obskur“ gegenüber „Bild“ zurückgewiesen. Es sei „so obskur, dass es schwerfällt, überhaupt darauf zu reagieren.“
Ungarn und andere mittel- und osteuropäische Länder hätten „ihre Freiheit nicht geerbt, sondern erkämpft“, sagte Orban weiter. Daraus resultierend sei „Rechtsstaatlichkeit für sie auch ein besonders wertvolles Gut“. Dieses könne und müsse „aber nur auf der Grundlage belastbarer und überprüfbarer Fakten diskutiert werden“.
Orban fordert Fakten
Der ungarische Regierungschef forderte die Kritiker in den Reihen der EU-Politiker auf, Fakten zu nennen, anstatt mit allgemeinen, nicht belegten Vorwürfen Stimmung zu machen:
Wer eine Diktatur erlebt hat, weiß nur zu gut, dass Anschuldigungen gern in diffusen Terminologien verpackt und nie richtig konkretisiert wurden“, äußerte er weiter.
Es müsse „glasklar definiert werden“, worauf die Vorwürfe der Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien gegen sein Land basierten – „und ob sie begründet sind oder eben nicht“.
Seine Fraktion werde dem Haushalt nur zustimmen, wenn es „Garantien“ für einen funktionstüchtigen Rechtsstaatsmechanismus gebe, sagte der Vorsitzende der Liberalen, Dacian Ciolos. „Nicht einen Euro für die Regierungen, die den Rechtsstaat nicht respektieren“, forderte die Chefin der Sozialdemokraten, Iratxe Garía.
„Wir sind im Moment nicht bereit, diese bittere Pille zu schlucken“, resümierte der Fraktionschef der Konservativen, Manfred Weber (CSU). Er und seine Kollegen seien bereit, „die nächste Zeit zu nutzen, um eine Lösung zu finden und die Einigung zu verbessern“.
Rabatt auf EU-Beiträge
In der Entschließung wenden sich die Abgeordneten auch gegen die Rabatte, die einigen Nettozahlerländern auf ihre EU-Beiträge gewährt werden. Parlament und Kommission fordern schon lange die Abschaffung dieser „Korrekturmechanismen“. Beim EU-Gipfel hatten die „sparsamen Vier“ – Österreich, die Niederlande, Dänemark und Schweden – aber sogar höhere Nachlässe für sich ausgehandelt. Der ebenfalls beträchtliche Rabatt Deutschlands blieb gleich.
Die höheren Rabatte waren den „Sparsamen“ zugestanden worden, weil sie sich lange gegen die Grundidee des Corona-Hilfsfonds gewehrt hatten: Dass die EU-Kommission Schulden aufnimmt und das Geld als nicht rückzahlbare Zuschüsse zur Krisenbewältigung an bedürftige Länder verteilt. Der Anteil der Zuschüsse an den 750 Milliarden wurde schließlich von 500 Milliarden auf 390 Milliarden Euro gesenkt.
Auch dies bemängelte das EU-Parlament: Das „Potenzial des Instruments und seine transformative Wirkung auf die Wirtschaft“ habe sich dadurch verringert. Neben der Reduzierung der Zuschüsse bemängelten die Abgeordneten einen fehlenden „Gegenfinanzierungsplan“. Pläne für neue Einnahmequellen der EU in Form neuer Abgaben seien nicht ausgereift.
Erhöhung zugunsten von Klimaschutz
In seiner Entschließung verlangte das EU-Parlament „gezielte Erhöhungen“ bei Haushaltsposten wie dem Klimaschutz oder dem Studentenprogramm Erasmus+. Für geplante neue EU-Abgaben wie eine Digitalsteuer forderten die Abgeordneten einen konkreten Zeitplan.
Die Einigung der Staats- und Regierungschefs sei „eine bittere Pille“, gestand von der Leyen. Der Kompromiss enthalte „schmerzhafte und bedauerliche Entscheidungen“, etwa bei der Ausstattung von geplanten Gesundheits- und Forschungsprogrammen. Allerdings stelle die Entscheidung, der EU-Kommission für den Aufbaufonds erstmals zu erlauben, massiv Schulden im Namen der Gemeinschaft aufzunehmen, einen „Wendepunkt“ dar. „Wir haben jetzt eine massive und beispiellose finanzielle Feuerkraft.“
Michel verteidigt EU-Vorgaben
EU-Ratspräsident Charles Michel verteidigte den ausgehandelten Kompromiss. Von Kürzungen könne nicht die Rede sein: „Als Ausgangspunkt sollten wir nehmen, was heute ausgegeben wird“, sagte der Belgier. Tatsächlich habe sich der Gipfel im Vergleich zu den Mitteln, die im laufenden Haushalt vorgesehen seien, auf bedeutende Erhöhungen verständigt – wenn auch niedrigere als eingangs vorgeschlagen.
Beim Thema Rechtsstaatlichkeit sei der Gipfelbeschluss eine „Etappe“, sagte Michel. Erstmals gebe es eine „klare Verbindung, eine Konditionalität“ zwischen Rechtsstaatlichkeit und der Auszahlung von EU-Mitteln.
Auch Kommissionschefin von der Leyen hob positive Aspekte der Haushaltseinigung hervor. „Wir sollten einen Schritt zurücktreten und uns anschauen, wo wir herkommen“, sagte die CDU-Politikerin. Es sei zum Beispiel gelungen, das Loch im Haushalt durch den Austritt Großbritanniens aus der Gemeinschaft weitgehend zu stopfen.
EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn sagte, er teile die Kritik der EU-Abgeordneten an den Beschlüssen. Insbesondere im Bereich der Außenpolitik sehe er die Möglichkeit für Nachverhandlungen. Themen wie die Beziehungen nach Afrika oder das Grenzmanagement könnten nur angegangen werden, „wenn es auch ein entsprechendes Budget gibt“, sagte der Österreicher.
Zwar bedarf lediglich der Haushaltsentwurf der Zustimmung des EU-Parlaments, der Corona-Hilfsfonds ist damit aber eng verknüpft, weshalb die Parlamentsentschließung auch darauf eingeht. Die Abstimmung über die Annahme des Haushaltsentwurfs soll im Herbst abgehalten werden. (dts/afp/dpa/sua)
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