Evakuierungen im Donbass als vergiftetes Geschenk an die Ukraine?
Während US-Präsident Joe Biden und führende Politiker, Geheimdienstoffiziere und Medien daran festhalten, dass ein Einmarsch der Russischen Föderation in der Ukraine unmittelbar bevorstünde, sind im ostukrainischen Donbass die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und prorussischen Separatisten wieder aufgeflammt.
Reihe nicht erfüllter westlicher Prognosen
Gleichzeitig gibt die Ankündigung der Führungen der nicht anerkannten sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Lugansk, die nicht wehrfähige Bevölkerung – insgesamt etwa 700.000 Personen – in die Russische Föderation zu evakuieren, Rätsel auf. In sozialen Medien werden Aufnahmen veröffentlicht, die lange Reihen von Evakuierungsbussen zeigen, die sich an die russische Grenze in der Region Rostow bewegen.
Aus Sicht des Westens drückt diese Veranlassung eine vermeintliche Vorentscheidung im Kreml zugunsten eines Einmarsches auf breiter Ebene in der Ukraine aus. Russische Truppen stehen nach wie vor an der Grenze, die Separatisten verfügen die Mobilmachung, die Kämpfe flammen auf. Aus Sicht der US-Regierung ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis es zu der bereits seit Längerem angekündigten False-Flag-Aktion käme, die Präsident Putin den entscheidenden Grund liefere, um die Ukraine und sogar deren Hauptstadt Kiew anzugreifen.
Ursprünglich hatten US-Geheimdienste vom Zeitpunkt einer erhöhten russischen Truppenkonzentration in ukrainischer Grenznähe im November des Vorjahres an den russischen Großangriff bis zum Ende des Vorjahres prognostiziert. Später war die Rede von der Zeit der Olympischen Spiele, mit dem 16. Februar wurde sogar einmal ein exaktes Datum genannt. Dem derzeitigen Stand zufolge soll die russische Offensive bis Ende des Monats kommen – und die Evakuierung der Bevölkerung im Donbass sei ein untrügliches Zeichen dafür.
Kiew im Zugzwang um entvölkerte Donbass-Gebiete?
Eine Möglichkeit, die hingegen kaum zur Sprache kommt, ist jedoch, dass Putin eine ganz andere Strategie verfolgen könnte, die der Ukraine einen Pyrrhussieg als vergiftetes Geschenk einbringen könnte. Zwar bestreitet man in Kiew vehement, eine militärische Lösung für den Donbass suchen und die Separatistengebiete gewaltsam an sich bringen zu wollen. Die derzeitige Konstellation setzt Kiew jedoch unter Zugzwang – zumal mit Fortdauer der Evakuierung die Intensität der Kampfhandlungen weiter zunimmt.
Es könnte in Summe darauf hinauslaufen, dass der Kreml die Donbass-Gebiete sich selbst überlässt – und sich nur deren mehrheitlich russische Bevölkerung einverleibt. Für Putin wäre dieses Szenario immerhin eine Lösung, die Russland einen größeren Nutzen bringen würde als eine Invasion mit hohen Verlusten, hohen Kosten und breiten Sanktionen durch eine westliche Einheitsfront.
Als 2014 der vom Westen unterstützte Umsturz auf dem Maidan das Land noch weiter spaltete, war es die Priorität aus Sicht des Kremls, sich die Halbinsel Krim zu sichern. Dies war besonders relevant wegen der dort stationierten russischen Schwarzmeerflotte sowie der besonders großen russischen Mehrheit in der Bevölkerung. Hinzu kam der Willen, dem Westen die Siegesfeier zu verhageln und ihm deutlich zu machen, dass die Unterstützung von Farb- und sonstigen Revolutionen in früheren Sowjetstaaten künftig einen Preis fordern würde. Dies alles hat der Kreml erreicht und die Krim wechselte ohne Blutvergießen den Staatsverband.
Russland hält Separatisten an der langen Leine
Die Rebellengebiete im Donbass waren hingegen immer eher ein Klotz am Bein des Kreml. Was die Separatisten anbelangt, spielten von Beginn an viele ihr eigenes Spiel. Der Kreml unterstützte die „Volksrepubliken“ und ihre Milizen zwar mit Geld, Waffen und Know-how, und er wird das auch weiterhin tun. Darüber hinaus hat er – anders als der Westen und auch die Regierung in Kiew es gerne darstellen – eher bloße Exzesskontrolle als Feinsteuerung betrieben.
Moskau begrüßt es, dass die Separatisten den Preis für die Umsetzung der Verwestlichung der Ukraine in die Höhe treiben. Man ist aber andererseits auch froh, dass sie und hyperaktive Geheimdienstleute wie Igor Strelkow, die dort eine Spielwiese vorfanden und immer noch vorfinden, weit weg vom Machtzentrum in Moskau operieren.
Auch nicht explizit prowestliche Beobachter halten die führenden Persönlichkeiten der Separatistengebiete nicht unbedingt für die fähigsten Staatsmänner. Neben Kommunisten und Ultranationalisten finden sich dort auch eine Reihe Mafiabosse, lokale Potentaten und ähnliche Persönlichkeiten, deren Beliebtheit in der Bevölkerung nicht in den Himmel wächst.
Wäre Putin der Überzeugung gewesen, die „Volksrepubliken“ würden einhelligen Rückhalt in der Bevölkerung genießen, hätte der Kreml diese Gebiete 2014 mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem Aufwasch mit der Krim abgetrennt. Die Tragik für die dortige Bevölkerung bestand jedoch auch darin, dass es auch die neuen Machthaber in Kiew nicht geschafft hatten, sich als positives Gegenbild in Szene zu setzen – nicht zuletzt ebenfalls wegen nationalistischer Betonköpfigkeit.
Ukraine hat nicht viel zu gewinnen
In Summe dürfte der größte Teil der nun evakuierten Bevölkerung der russischen Regierung deutlich mehr vertrauen als der in Kiew, aber auch den diversen Separatisten-Warlords. Die meisten würden eine dauerhafte Existenz auf russischem Staatsgebiet wohl jener in der Bürgerkriegsregion der Ukraine bevorzugen.
Die Ukraine wiederum würde auch durch eine früher oder später vollzogene Einnahme der Separatistengebiete nicht viel gewinnen. Ihr droht der Exodus von Hunderttausenden Bewohnern, sie hätte noch über Jahre mit Sabotageakten, Rückzugsgefechten oder anderen Störmanövern der verbliebenen Separatisten zu kämpfen, die viel an Menschenleben und Geld kosten und die wirtschaftliche Erholung behindern.
Der Kreml wiederum könnte die Entwicklung so darstellen, dass er eine gewaltsame Einnahme der Gebiete vonseiten der Ukraine geahnt und in einer großen humanitären Aktion die Zivilisten evakuiert habe – während im Westen die EU Flüchtlinge Leute im Mittelmeer ertrinken lasse und, statt sich um Frieden zu bemühen, Propaganda und Fake-News über Russland verbreite.
Der größte Gewinn für die Ukraine im Donbass wäre die Kontrolle über die dortigen Kohlevorkommen als den wesentlichen Bodenschatz. Doch als neu-westliches Land und EU-Aspirant würde sich das Land nicht lange daran freuen können – bevor auch die Ukraine wegen des Klimaschutzes aus deren Nutzung aussteigen müsste.
Der Informationskrieg geht in jedem Fall dennoch weiter. Aus russischer Sicht dürfte es aber lohnender sein, darauf zu bauen, dass sich der Westen mit seiner zunehmenden ideologischen Versteinerung und seinen Widersprüchen auf Dauer selbst delegitimiert, als selbst in eine militärische Konfrontation einzusteigen.
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