Evakuierung rund um das ostukrainische Pokrowsk: Abschied unter Tränen
Im ostukrainischen Pokrowsk wartet Anna Dworjaninowa auf einen Zug, den sie nie nehmen wollte. Die Bahn soll die Mutter und ihre sechs Kinder in Sicherheit vor den vorrückenden russischen Truppen bringen. Den Tränen nahe drängt die 35-Jährige die Jungen und Mädchen zu den in den ukrainischen Nationalfarben Blau und Gelb gestrichenen Waggons, ein älteres Kind schleppt ein jüngeres Geschwister. Hunderte Menschen warten in der Sommerhitze auf dem Bahnsteig auf ihre Evakuierung.
In den zweieinhalb Jahren seit dem russischen Überfall auf die Ukraine harrte Dworjaninowa in ihrem Dorf nahe Pokrowsk im Donbass aus, sie wollte sich nicht vom Krieg vertreiben lassen. „Das ist mein Zuhause: Ich bin hier geboren, habe hier geheiratet, meine Kinder bekommen und mich scheiden lassen“, erzählt sie mit zitternder Stimme. „Das ist mein geliebter Donbass.“
Doch nun sind die Angreifer nur noch wenige Kilometer von Pokrowsk entfernt und Kiew ordnete die Evakuierung von Familien mit Kindern in weiter westlich gelegene Städte an. Angesichts der immer größer werdenden Gefahr entschied sich Dworjaninowa Anfang der Woche zur Flucht. Jetzt rollt sie ihre Koffer zum Zug. Andere auf dem Bahnsteig haben ihr Hab und Gut in Plastiktüten verpackt, umklammern ihre Haustiere, manche warten in Rollstühlen.
„Draußen war weit und breit keine Menschenseele”
Auch Klawdija Skupeyko hatte bis zum letzten Moment gehofft, in ihrem Haus in Selydowe südlich von Pokrowsk bleiben zu können. Monatelang beschoss die russische Armee die Stadt, die 65-Jährige war eine der letzten verbliebenen Bewohnerinnen. „Draußen war weit und breit keine Menschenseele zu sehen – das ist beängstigend, wenn man allein ist. So eine bedrückte Stimmung, so ein Grauen“, schildert die Frau mit den langen grauen Haaren.
Wann und ob überhaupt die Evakuierten nach Hause zurückkehren können, weiß niemand. Skupeyko jedoch gibt nicht auf: „Wir hoffen, dass diese Welle vorüberzieht, und wir Selydowe wieder aufbauen können“, sagt sie mit einem Lächeln. „Davon bin ich überzeugt und so soll es sein.“
Die größte Sorge von Maxym Starowskiji ist, ob er wieder zur Schule gehen kann. „Ich brauche eine Ausbildung“, sagt der 16-Jährige auf dem Bahnsteig und erzählt von der Bombe, die seine Schule traf. „Seither habe ich nur Online-Unterricht.“
Kirill befürchtet, dass die Stadt dem Erdboden gleichgemacht wird
Fast täglich nehmen Moskaus Truppen weitere Ortschaften ein. Auch im nahe gelegenen Myrnograd laufen deshalb Evakuierungen. Kirill Kosoris hilft dabei. Der 32-Jährige hat große Angst, dass seine Heimatstadt an Russland fallen könnte. „Ich will mir nicht vorstellen, dass das unserer Stadt passieren könnte“, sagt er.
Viele Gebäude in Myrnograd sind bereits zerstört, nur noch wenige Menschen leben dort. Kosoris befürchtet, dass die Stadt wie Bachmut oder Awdijiwka dem Erdboden gleichgemacht werden könnte. „Ganz ehrlich, mir kommen die Tränen. Nachts träume ich davon“, sagt er.
Kosoris‘ Mutter hat ihm aufgetragen, nicht alles aus dem Haus mitzunehmen. Sie klammert sich an die Hoffnung, bald zurück zu kommen. Genauso wie Nadeschda und Andrei Lewtschenko.
Die beiden sind um die 50, ein Anfang der 1990er Jahre eröffnetes Uhrengeschäft in Myrnograd ist ihr Lebenswerk. Jetzt verpacken die beiden jede Uhr aus dem mit Plastikblumen geschmückten Ladentisch in braunes Papier. „Wir müssen gehen und mitnehmen, was wir können“, sagte Nadeschda Lewtschenko. Tagelang schlief das Ehepaar im Geschäft, um auch während der Ausgangssperre packen zu können. Jetzt ist der Laden schon halb leer.
„Wir waren Studenten und es war unser Traum, ein Uhrengeschäft zu eröffnen“, erzählt Nadeschda Lewtschenko in ihrem gelben Kleid. Auch jetzt will sie diesen Traum nicht aufgeben. Vielleicht könnten sie eines Tages in den Laden zurückkehren. „Wir sind voller Hoffnung“, sagt sie.
Hintergrund für die Evakuierung
In der Ostukraine rückt Russland eigenen Angaben zufolge weiter in Richtung der strategisch wichtigen Stadt Pokrowsk vor. Die russische Armee meldete am Donnerstag die Einnahme der nur 15 Kilometer von Pokrowsk entfernten Ortschaft Mykolajiwka. Zuvor hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Lage in der Region als „extrem schwierig“ bezeichnet. Indes meldeten russische Behörden einen Toten und zwei Verletzte bei ukrainischen Drohnenangriffen in der Grenzregion Belgorod.
Wie das russische Verteidigungsministerium erklärte, wurde neben Mykolajiwka in der Region Donezk auch die Ortschaft Stelmachiwka in der benachbarten Region Luhansk eingenommen. Die russischen Streitkräfte waren in den vergangenen Monaten stetig in Richtung des wichtigen logistischen Knotenpunkts Pokrowsk vorgerückt und hatten eigenen Angaben zufolge mehrere Ortschaften eingenommen.
In seiner täglichen Ansprache bezeichnete der ukrainische Präsident Selenskyj die Lage unweit von Pokrowsk am Mittwochabend als „extrem schwierig“. Dort seien derzeit die meisten russischen Kräfte konzentriert, sagte er. Laut dem ukrainischen Armeechef Oleksandr Syrskyj gibt es in dem Gebiet in einer Reihe von Dörfern „heftige Kämpfe“.
Russische Angriffe auf Ukraine halten an
Unterdessen setzte Russland auch seine Luftangriffe auf die Ukraine fort. Ukrainischen Angaben zufolge wurden 74 Angriffsdrohnen und fünf Raketen auf verschiedene Ziele im Land abgefeuert, die meisten Geschosse konnten allerdings von Luftabwehrsystemen abgeschossen werden.
Aus der Hauptstadt Kiew berichteten Journalisten der Nachrichtenagentur AFP von Luftalarm und mindestens einer Explosion. Mehrere Privathäuser wurden Behördenangaben zufolge beschädigt, Tote und Verletzte wurden zunächst nicht gemeldet. Bereits in den Nächten zu Montag und Dienstag war die Ukraine von einer massiven Angriffswelle mit Raketen und Drohnen überzogen worden. Dabei wurden Energieanlagen getroffen und mehrere Menschen getötet.
Im Interview mit dem Deutschlandfunk sagte der ukrainische Botschafter in Berlin, Oleksii Makeiev, der ukrainische Vorstoß in Kursk habe „sehr viel in der Wahrnehmung verändert“. Die Ukraine habe der ganzen Welt gezeigt, dass Russland besiegbar sei, „wenn man seine Schwächen sieht und sie auch nutzt“. Nun brauche Kiew aber auch „viel mehr Mut von unseren Partnern“.
Lieferungen laufen schleppend
In Brüssel kritisierte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba die Militärhilfen der europäischen Verbündeten angesichts der jüngsten russischen Luftangriffe als zu schleppend. Es gebe teils „exzessiv lange“ Zeitabstände zwischen Ankündigungen und Lieferungen – etwa bei Patriot-Systemen, sagte er am Rande eines informellen EU-Außenrats.
Weiter rief Kuleba die Europäer dazu auf, Druck auf die USA und Großbritannien auszuüben, damit diese Länder Beschränkungen für den Einsatz der von ihnen gelieferten Waffen gegen Russland aufheben. Washington und London müssten es der Ukraine erlauben, „legitime militärische Ziele tief in Russland zu treffen“, forderte Kuleba. Bisher ist dies der Ukraine lediglich in der Region Charkiw gestattet. (afp/red)
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