EU will Ländern mehr Spielraum beim Schuldenabbau geben
Die von der EU-Kommission vorgelegten Reformvorschläge für die europäischen Schuldenregeln sind aus Sicht der Bundesregierung nicht ausreichend.
„Das, was vorgelegt ist, entspricht noch nicht unseren Erwartungen“, sagte Finanzminister Christian Lindner. Es brauche noch deutliche Anpassungen, um zu wirklich verlässlichen, transparenten und verbindlichen Regeln zu kommen. „Aber immerhin sind Ansatzpunkte im Vorschlag der Kommission erkennbar, die eine weitere Debatte lohnenswert erscheinen lassen. Das gilt es nun im Rahmen der Gespräche auszuloten und darauf aufzubauen“, sagte der FDP-Politiker.
In Reformvorschlägen für den sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakt hatte die Brüsseler Behörde vorgeschlagen, hoch verschuldeten europäischen Ländern mehr Flexibilität beim Abbau von Schulden und Defiziten einzuräumen. Statt einheitlicher Vorgaben für alle Länder setzt die Behörde auf individuelle Wege für jedes Land, um Schulden und Defizite langfristig zu senken.
„Wir leben in einer sehr anderen Welt als vor 30 Jahren. Andere Herausforderungen, andere Prioritäten“, sagte Kommissionsvizepräsident Valdis Dombrovskis in Brüssel bei der Vorstellung des Vorschlags. Die neuen Regeln müssten diese Veränderungen widerspiegeln. Die EU stehe vor einem massiven Reform- und Investitionsbedarf für den grünen und digitalen Wandel.
Keine Vorgaben mehr fürs Erreichen des 60-Prozent-Ziels
Die Schuldenregeln schreiben den EU-Staaten Obergrenzen vor. Die bisherigen Ziele, Schulden bei maximal 60 Prozent der Wirtschaftsleistung zu begrenzen und Haushaltsdefizite unter 3 Prozent zu halten, bleiben dem Vorschlag zufolge bestehen. Allerdings soll es vor allem für das Erreichen des 60-Prozent-Ziels keine einheitlichen Vorgaben mehr geben. So sollen individuelle Pläne Ländern mit übermäßiger Verschuldung mehr Zeit und Flexibilität einräumen. Auch soll die Überwachung der Umsetzung vereinfacht werden. Verstöße sollen leichter geahndet werden können.
Wegen der Corona-Krise sowie der Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine wurden die bislang geltenden Regeln bis 2024 ausgesetzt. Bislang müssen Staaten normalerweise fünf Prozent der Schulden, die über der 60-Prozent-Marke liegen, im Jahr zurückzahlen. Für hoch verschuldete Länder wie Italien oder Griechenland wäre das für das Wachstum verheerend. Auch vor der Pandemie wurde das Regelwerk oft missachtet – auch von Deutschland.
„Uns fehlen die numerischen Vorgaben, uns fehlen Haltelinien“
Die hoch verschuldeten Länder hätten nach dem Vorschlag mehr Zeit, um das Defizitziel zu erreichen und ihre Schulden zu senken. Solange das Defizit über drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) liegt, muss dem Gesetzesvorschlag zufolge der „korrigierende Nettoausgabenpfad“ der Länder jährlich um mindestens 0,5 Prozent des BIP angepasst werden. Nach Angaben einer Kommissionssprecherin geht es um das strukturelle Saldo mit Ausnahme befristeter Maßnahmen. Bei diesen könnte es sich etwa um Corona-Hilfen oder Ausgaben für den Klimaschutz handeln. Als Saldo wird der Differenzbetrag zwischen der Ausgaben- und Einnahmenseite bezeichnet.
Lindner kritisierte das Fehlen klarer und einheitlicher Regeln zum Schuldenabbau: „Uns fehlen die numerischen Vorgaben, uns fehlen Haltelinien.“ Der Vorschlag leiste noch nicht das, was er sollte – verlässlichen Defizitabbau, verlässliche Reduzierung der Staatsschuldenquoten.
Deutschland hatte in der monatelangen Debatte über die neuen Regeln strenge Mindestvorgaben gefordert. Nach Vorstellung des Finanzministeriums sollten Länder mit hohen Schuldenquoten diese um mindestens einen Prozentpunkt jährlich senken müssen. Bei Ländern mit mittleren Schuldenquoten soll es ein halber Prozentpunkt sein. Die Positionen zu den Schuldenregeln sind in den einzelnen EU-Ländern sehr unterschiedlich.
Kritik am deutschen Finanzminister Lindner
Die Staaten und das EU-Parlament müssen nun über die vorgeschlagenen Reformen verhandeln. Bei einem informellen Treffen der EU-Finanzminister in Schweden Ende der Woche wird es Lindner zufolge einen ersten Gedankenaustausch zu den Reformvorschlägen geben, er erwarte aber noch keine Durchbrüche.
Der SPD-Europaabgeordnete René Repasi kritisierte, dass die Kommission künftig bilateral mit den Ländern den Schuldenabbau vereinbaren wolle und nationale Parlamente keine Rolle in den Vorschlägen spielten. Aus Sicht des wirtschaftspolitischen Sprechers der christdemokratischen EVP-Fraktion, Markus Ferber (CSU), hat die Kommission bei dem Reformvorschlag die Finanzstabilität „aus den Augen verloren“. Der grüne Europaabgeordnete Rasmus Andresen kritisierte Lindners Äußerungen. Seine Kritik sei „nicht von der eigentlich konstruktiven deutschen Verhandlungslinie abgedeckt“. Man brauche eine offene Bundesregierung, keinen Konfrontationskurs, der die EU weiter spalte. (dpa)
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