EU-Kommission wirft Türkei „Verlangsamung“ des Reformtempos vor
Die Europäische Kommission übt in ihrem neuen Fortschrittsbericht 2015 überraschend heftige Kritik am EU-Beitrittskandidaten Türkei: Die Brüsseler Behörde wirft Ankara gegenüber dem Vorjahr insgesamt eine „Verlangsamung“ des politischen Reformprozesses vor, berichtet die „Welt“ unter Berufung auf den neuen Fortschrittsbericht Türkei 2015, den EU-Erweiterungskommissar am Dienstag in Brüssel vorstellen wird. Konkret beklagt die Brüsseler EU-Kommission Rückschritte bei der Durchsetzung von demokratischen Grundrechten, wie der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, und beim Kampf gegen die Korruption. Beim Aufbau eines unabhängigen Justizsystems trete die Türkei dagegen auf der Stelle.
In dem Bericht heißt es laut „Welt“ dazu wörtlich: „Seit 2014 gibt es keine Fortschritte. Die Unabhängigkeit des Justizwesens und die Beachtung des Prinzips der Gewaltenteilung wurden untergraben und sowohl Richter als auch Staatsanwälte standen unter starkem politischen Druck. Die Türkei sollte ein politisches und legales Umfeld schaffen, das es der Justiz erlaubt, ihren Pflichten unabhängig und unparteiisch nachzugehen“. Neben Kritik am mangelnden Reformprozess bemängelt die EU-Kommission auch den „Stillstand“ in der Kurdenfrage und fordert Ankara zur Aussöhnung mit den Kurden auf: „Es ist zwingend, den Friedensprozess mit den Kurden wieder aufzunehmen. Er bleibt der beste Weg, um einen Konflikt, der so viele Leben kostete, zu lösen. Die neue Regierung muss der Demokratisierung und Aussöhnung Priorität einräumen.“ Scharf ins Gericht geht die Kommissionsbehörde mit der Entwicklung demokratischer Grundrechte in der Türkei: „Es gab bemerkenswerte Rückschritte bei der Meinungs- und Versammlungsfreiheit.“ Während in der Vergangenheit einige Fortschritte erzielt wurden und politische sensible Fragen öffentlich diskutiert werden konnten, „sind neue polizeiliche Ermittlungsverfahren gegen Journalisten, Schriftsteller und die Nutzer sozialer Medien Besorgnis erregend“. Auch mit Blick auf die Versammlungsfreiheit wirft die EU-Kommission der Türkei „eine wachsende Intoleranz gegenüber öffentlichen Protesten und eine restriktive Interpretation des Versammlungsrechts“ vor. Im Kampf gegen die Korruption sind die Anstrengungen der Türkei aus Sicht Brüssels „unzureichend“. Die Korruption bleibe „weit verbreitet“. In dem Bericht heißt es weiter: „Die Zahl der Untersuchungen, strafrechtlichen Verfolgungen und Verurteilungen ist zurückgegangen“. Insbesondere in hochrangigen Kreisen bleibe die Zahl der Korruptionsuntersuchungen „begrenzt“. Ausdrücklich lobt der Fortschrittsbericht die „bemerkenswerten Anstrengungen“ Ankaras bei der Aufnahme syrischer Flüchtlinge, schreibt die „Welt“. Es hätte Fortschritte bei der Integration der Flüchtlinge gegeben: „Aber es existieren einige Gesetzeslücken. Die Türkei sollte noch Gesetze auf den Weg bringen, die Syrern, die unter vorübergehendem Schutz stehen, Zugang zum Arbeitsmarkt erlauben.“ Mit Blick auf die Sicherung der Grenzen fordert die EU-Kommission von Ankara trotz einiger Fortschritte mehr Anstrengungen. Es fehle immer noch ein „integriertes Grenzmanagement-System“ und eine einzige zivile Grenzschutzagentur. „Die Koordination und Zusammenarbeit zwischen den existierenden Grenzschutzagenturen muss verbessert werden“, schreiben die Experten der EU-Kommission. Ungewöhnlich offen rügt Brüssel auch Defizite im Wahlkampf für die Parlamentswahlen im November. „Die Medien waren mit steigendem Druck und Einschüchterungen konfrontiert, was zur Selbstzensur beigetragen hat“. Außerdem habe es „eine hohe Zahl von Angriffen auf Kandidaten und Parteihelfer“ gegeben. Es habe laut internationalen Beobachtern auch so ausgesehen, dass Staatspräsident Erdogan die regierende AKP im Wahlkampf favorisiert hätte – damit habe der Präsident die Vorgaben der Verfassung missachtet. Echtes Lob erhält Ankara vor allem für die wirtschaftliche Entwicklung im Land. In dem Bericht heißt es dazu: „Mit Blick auf die wirtschaftlichen Kriterien ist die türkische Volkswirtschaft gut entwickelt und kann als funktionierende Marktwirtschaft angesehen werden“. Die türkische Wirtschaft habe gute Voraussetzungen mit dem Wettbewerbsdruck innerhalb der EU fertig zu werden. Die Türkei sei vor allem im Wirtschaftssektor gut vorbereitet auf die im Rahmen der Beitrittsverhandlungen erforderlichen Anpassungen an die EU-Gesetzgebung. Dies gelte beispielsweise für die Unternehmensgesetzgebung, den Schutz geistigen Eigentums und in der Industriepolitik.
(dts Nachrichtenagentur)
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