EU-Gemeinschaftsschulden wie zur Corona-Zeit und neue Rüstungsbehörde gefordert

Der frühere italienische Regierungschef und EZB-Präsident Mario Draghi hat die EU zu „massiven“ Investitionen in Wirtschaft, Verteidigung und Klimaschutz aufgerufen. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) erteilte dem umgehend eine Absage.
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Der ehemalige italienische Ministerpräsident Mario Draghi (L) und die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen am 9. September 2024 in Brüssel.Foto: NICOLAS TUCAT/AFP via Getty Images
Von 10. September 2024

Der frühere italienische Regierungschef und Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, hat die EU zu massiven Investitionen in Wirtschaft, Verteidigung und Klimaschutz aufgerufen.

Nötig seien „zusätzlich jährliche Mindestinvestitionen von 750 bis 800 Milliarden Euro“, schreibt er in einem Strategiepapier, das er am Montag in Brüssel vorstellte. Draghi fordert dafür neue Gemeinschaftsschulden. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) erteilte dem umgehend eine Absage.

Draghi übergab seinen Bericht zur europäischen Wettbewerbsfähigkeit an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die ihn vor rund einem Jahr in Auftrag gegeben hatte. Angesichts der Konkurrenz aus den USA und China warnt Draghi die Europäer vor einer „existenziellen Herausforderung“.

Ohne höhere Produktivität könne Europa nicht „führend bei neuen Technologien, Leuchtturm der Klimaverantwortung und unabhängiger Akteur auf der Weltbühne“ sein. Auch das europäische Sozialmodell sei dann nicht mehr finanzierbar, schrieb der Italiener.

Draghi fordert neue Rüstungsbehörde

Der Italiener beziffert die nötigen Zusatzinvestitionen in die europäische Wirtschaft darin auf 4,4 bis 4,7 Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 2023 – mehr als das Doppelte der Hilfen aus dem Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg.

In seinem Plädoyer für eine „neue Industriestrategie“ empfiehlt der Italiener deshalb die Ausgabe neuer „gemeinsamer Schuldtitel (…) zur Finanzierung gemeinsamer Investitionsprojekte, die die Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheit der EU erhöhen“.

Für die Verbesserung der Sicherheit fordert Draghi eine neue Rüstungsbehörde. Diese soll die EU-Rüstungsindustriepolitik koordinieren, den zentralen Einkauf von Rüstungsgütern durchführen, die Regeln und Abläufe der Rüstungsindustriepolitik überprüfen.

EU-Problem laut Lindner: „Fesselung durch Bürokratie und Planwirtschaft“

Lindner wies dies zurück. Einer „Vergemeinschaftung von Risiken und Haftung“ werde Deutschland „nicht zustimmen“, betonte der FDP-Politiker. Problematisch in der EU sei nicht der „Mangel an Subventionen, sondern die Fesselung durch Bürokratie und Planwirtschaft“, erklärte er.

In der Corona-Pandemie hatte die EU ein kreditfinanziertes Hilfspaket von 750 Milliarden Euro geschnürt. Länder wie Italien und Frankreich fordern seitdem ein neues Paket und berufen sich auf die gestiegenen Ausgaben für Verteidigung und Klimaschutz. Neben Deutschland lehnen auch die Niederlande dies ab.

Von der Leyen nannte Instrumente zur Gemeinschaftsfinanzierung wichtig. Möglich seien aber auch sogenannte Eigenmittel, zu denen Einfuhrzölle und die EU-Plastikabgabe zählen, sagte die EU-Kommissionspräsidentin auf die Frage, wie sie den Widerstand der Bundesregierung gegen neue Gemeinschaftsschulden überwinden wolle. Darüber müssten die Mitgliedsländer entscheiden.

Draghi: Dekarbonisierung kann „Wachstumschance“ sein

In seinem Bericht fordert Draghi angesichts der Konkurrenz aus China und den USA einen Aktionsplan für die europäische Automobilindustrie, mehr Anreize zur Digitalisierung und eine echte „Energieunion“.

Deutsche Industrievertreter begrüßten den Draghi-Bericht. Er bringe die Probleme „auf den Punkt“, erklärte der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit müsse „höchste Priorität“ haben. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) sprach von „wichtigen Impulsen“. Der Wirtschaft sei besonders dann geholfen, wenn Hürden wie „hohe Energiepreise, überbordende Bürokratie und eine schleppende digitale Transformation“ abgebaut würden, erklärte DIHK-Präsident Peter Adrian.

Mit Blick auf Sektoren mit hohem Treibhausgasausstoß wie Schwerindustrie und Verkehr rief Draghi die EU auf, ihre Klimapolitik besser zu justieren. Wenn alle politischen Maßnahmen mit den Klimazielen übereinstimmten, sei es „sehr wahrscheinlich, dass die Dekarbonisierung eine Wachstumschance ist“, sagte Draghi vor Journalisten. „Aber wenn wir uns nicht abstimmen, besteht die Gefahr, dass die Dekarbonisierung der Wettbewerbsfähigkeit und dem Wachstum zuwiderläuft.“

Schwachstellen: Europa hat den Anschluss verloren

Europa müsse die wichtigsten Schwachstellen angehen: Verringerung der Abhängigkeit von China bei wichtigen Mineralien, Aufbau einer „Außenwirtschaftspolitik“ zur Sicherung wichtiger Lieferketten sowie die Nutzung heimischer Ressourcen durch Abbau, Recycling und Entwicklung alternativer Materialien.

Gegenüber den USA und China sei Europa wirtschaftlich ins Hintertreffen geraten. Die US-Wirtschaft sei heute 50 Prozent größer als die der EU, obwohl sie vor 15 Jahren noch gleichauf waren.

In der EU befürchten viele, dass hiesige Unternehmen den Anschluss verlieren könnten. So hatte dieses Jahr bereits ein anderer Bericht festgehalten: „Während das Pro-Kopf-BIP in den USA zwischen 1993 und 2022 um fast 60 Prozent gestiegen ist, betrug der Anstieg in Europa weniger als 30 Prozent.“

Neue Technologien notwendig

Draghi führt dies nun vor allem auf den Technologiesektor zurück. „Europa hat die durch das Internet ausgelöste digitale Revolution und die damit verbundenen Produktivitätsgewinne weitgehend verpasst“, heißt es in seinem Bericht.

Die EU sei schwach bei neuen Technologien, die das künftige Wachstum antreiben würden. Nur vier der 50 größten Technologieunternehmen der Welt seien europäische Unternehmen.

Im Konkurrenzkampf mit Firmen aus Nordamerika und Asien muss die europäische Wirtschaft nach Ansicht von Draghi zudem deutlich innovativer werden. Europa stecke in einer statischen Industriestruktur fest, schreibt der 77-Jährige. So würden nur wenige neue Unternehmen auftauchen, die die bestehenden Industrien verändern oder neue Wachstumsmotoren entwickeln würden.

Deutsche Politiker begrüßen Draghis Reformvorschläge

Deutsche Europaabgeordnete riefen dazu auf, den Bericht nun nicht in der Schublade verschwinden zu lassen. „Draghis Mut darf nicht von nationalen Bedenkenträgern ausgebremst werden“, forderte der Grünen-Politiker Rasmus Andresen.

Auch die Unionsfraktion begrüßt die von Mario Draghi ausgearbeiteten Reformvorschläge für die Europäische Union. „Es darf nicht allein bei Berichten bleiben, am Ende zählt die Umsetzung“, betonte der CSU-Abgeordnete Markus Ferber.

„Herr Draghi bringt die richtigen Themen auf den Tisch“, sagte die wirtschaftspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Julia Klöckner (CDU), am Montag. „Über dem politischen Handeln in Europa und Deutschland muss nun dringend eine bessere Wettbewerbsfähigkeit stehen. Dazu braucht die Wirtschaft einen Rahmen, der sie befähigt, in einer zunehmend geopolitischen und geoökonomische Welt, die auch ohne Europa nach vorne geht, mitzuhalten. Im europäischen Binnenmarkt müssen Produktivität gesteigert, Innovationen angereizt, internationale Abhängigkeiten abgebaut und unsere heimische Industrie gestärkt werden“, so Klöckner.

Gerade in Deutschland spürten Unternehmen und Mitarbeiter den Druck des globalen Wettbewerbs. „Hilferufe der Unternehmen erreichen uns mittlerweile täglich, und die Wirtschaftsdaten zeigen gerade im Vergleich mit anderen Staaten, dass ,Made in Germany‘ massiv in Gefahr ist“, so die CDU-Politikerin.

Krichbaum (CDU): „Die EU darf nicht zur Schuldenunion werden“

Ihr Kollege Gunther Krichbaum (CDU) sagte: „Wir begrüßen außerordentlich, dass Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit zum Schlüsselthema ihrer zweiten Amtszeit macht.“ Die gefährliche Mischung aus Stagnation, hohen Rohstoff- und Energiepreisen sowie zu viel Bürokratie habe Unternehmen und Bürger an die Belastungsgrenze gebracht. „Die von Mario Draghi vorgestellten Überlegungen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit gehen deshalb in die richtige Richtung.“

Insbesondere die Vertiefung des Binnenmarktes durch Vollendung der Kapitalmarkt- und Energieunion müsse jetzt zügig vorangebracht werden, so Krichbaum. „Klar ist aber auch: Investitionsprogramme für Wirtschaft und Verteidigung dürfen kein Vorwand für neue schuldenfinanzierte Ausgaben sein. Die EU darf nicht zur Schuldenunion werden.“

Statt immer neuer massiver Subventionen brauche man dringend eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für eine wettbewerbsfähige Wirtschaft, sagte der CDU-Politiker weiter. „Hierzu gehören schnellere Entscheidungs- und Genehmigungsverfahren sowie ein Abbau der bürokratischen Belastungen auf EU-Ebene, insbesondere für den Mittelstand.“

(Mit Material von afp/dpa/dts)



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