Erdogans Prestigeprojekt: Machtkampf um den „Kanal Istanbul“
Blau und glitzernd schlängelt sich der Kanal durch Istanbul, am Ufer stehen Häuser in Gärten, in einem Jachthafen dümpeln Segelboote und Katamarane. Acht Brücken über und eine U-Bahn unter dem Kanal sollen entstehen. Eine von Musik begleitete Männerstimme spricht von einer neuen Zeit.
Das türkische Umweltministerium hat das Video veröffentlicht, es veranschaulicht den „Kanal Istanbul“ – eine künstliche Wasserstraße vom Marmarameer zum Schwarzen Meer, westlich der berühmten Bosporus-Meerenge. Der Bau soll schon bald beginnen, 75 Milliarden Türkische Lira (rund eine Milliarde Euro) kosten und in sieben Jahren fertiggestellt werden.
Der Kanal ist ein Prestigeprojekt des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan – eines, das er selbst als „verrückt“ bezeichnet. Er meint das positiv. Der oppositionelle Istanbuler Bürgermeister und Erdogan-Rivale Ekrem Imamoglu vergleicht das Video hingegen mit einem „Hollywood-Film“. Er will den Bau verhindern. Der sonst für seine bedachte Rhetorik bekannte Bürgermeister wählt drastische Worte. Das Projekt sei ein „Desaster“ für Istanbul, ein „Verrat“ und „Mord“ an der 16-Millionen-Metropole.
Experten sehen Trinkwasserressourcen in Gefahr
Experten warnen vor irreparablen Schäden am Ökosystem um Istanbul und davor, dass Trinkwasserressourcen gefährdet würden. Kritiker werfen der Regierung zudem vor, die Arbeit an den Brücken, die über den Kanal führen sollen, inmitten der Corona-Krise ausgeschrieben zu haben. Sie treibe das Projekt voran, obwohl die Pandemie negative Folgen für die ohnehin schon angeschlagene Wirtschaft haben werde. Nicht zuletzt ist der Kanal auch Projektionsfläche eines Machtkampfs zwischen Erdogan und Imamoglu, der von manchen schon als möglicher Präsidentschaftskandidat gehandelt wird.
Erdogan hatte das Thema „Kanal Istanbul“ im Jahr 2011, damals als Ministerpräsident, auf die Tagesordnung gebracht. Die Wasserstraße ist Teil einer Reihe von ambitionierten Infrastruktur-Projekten für Istanbul. Fertiggestellt sind schon die dritte Brücke über dem Bosporus und der Mega-Flughafen im Norden der Stadt. Sie sollen durch eine Autobahn mit dem zukünftigen Kanal verbunden werden.
Ein Jacht- und ein Containerhafen sind ebenfalls geplant, und am Kanal soll eine neue Stadt entstehen, der Regierung zufolge mit etwa 500 000 Einwohnern. Gürkan Akgün, Chef des städtischen Büros für Bau- und Stadtplanung, kritisiert, dass im stark erdbebengefährdeten Istanbul zwischen dem Bosporus und dem neuen, parallel dazu verlaufenden Kanal so eine „Insel“ entstehe. Das erschwere im Notfall die Evakuierung und logistische Unterstützung, warnt er. Der Norden Istanbuls dürfe ohnehin eigentlich gar nicht bebaut werden, das sei im Jahr 2009 in einem sogenannten Masterplan festgehalten worden.
Stadtverwaltung reicht Klage gegen umstrittene Wasserstraße ein
Die Stadtverwaltung hat Klage eingereicht und Unterschriften gegen den Kanal gesammelt. Bürgermeister Imamoglu, der seit rund einem Jahr im Amt ist, hat aber wenig Einfluss auf das Projekt. Die Türkei ist zentralstaatlich organisiert: Ankara entscheidet. Zudem wird das Stadtparlament von Erdogans Regierungspartei AKP dominiert. Erdogan macht immer wieder deutlich, wer im Land seiner Meinung nach das Sagen hat. Schon Ende Dezember stellt er an Imamoglu gerichtet klar: „Nicht Du entscheidest über den Kanal Istanbul, die Befugnis, darüber zu entscheiden, liegt bei mir.“
Die umstrittene Wasserstraße soll 45 Kilometer lang und an der schmalsten Stelle 275 Meter breit werden und damit länger und schmaler als der Bosporus, der etwa 27 Kilometer lang und an der schmalste Stelle 698 Meter breit ist. Die Regierung argumentiert, der „Kanal Istanbul“ sei unumgänglich, um den Bosporus zu entlasten. Der Schiffsverkehr dort nehme kontinuierlich zu. Während zurzeit durchschnittlich 50 000 Schiffe jährlich den Bosporus durchquerten, könnten es im Jahr 2070 rund 86 000 sein, so die Schätzung im Umweltverträglichkeitsbericht.
Die Opposition hält dagegen und sagt, der Schiffsverkehr habe in den vergangenen zehn Jahren abgenommen. Der Statistik der Direktion für Küstensicherheit zufolge haben 2009 noch rund 51 400 Schiffe den Bosporus durchquert, im Jahr 2019 waren es nur noch rund 41 100 – sie würden allerdings immer größer und schwerer.
Die freie Durchfahrt für Handelsschiffe in Friedenszeiten durch den Bosporus ist im Vertrag von Montreux von 1936 geregelt. Auch wenn Schiffe nicht verpflichtet werden könnten, den neuen Kanal zu nutzen – der Gebühren kosten soll – gibt sich die Regierung zuversichtlich. Umwelt- und Städteminister Murat Kurum hatte im Dezember gesagt, Reedereien würden die neue Wasserstraße vorziehen, weil sie damit Wartezeiten umgehen könnten. Im Jahr 2019 hätten Schiffe etwa 14 Stunden vor dem Zugang zum Bosporus warten müssen, sagte er. Tanker mit gefährlicher Ladung sogar 30 Stunden. Für Kurum ist der „Kanal Istanbul“ ein Projekt, dass den Bosporus „schützt“. Vor allem Containerschiffe mit gefährlicher Ladung seien ein Sicherheitsrisiko.
Der „Kanal Istanbul“ soll durch zwei Wasserreservoirs führen
Im Januar trommelten Imamoglu und sein Team Experten, Medienvertreter und Bürger zu einem Workshop zum Kanal zusammen. Der Bürgermeister warf der Regierung dort vor, ein Projekt zu planen, das auf „Beton und Rendite“ beruhe, aber nicht wirtschaftlich sei. Imamoglu warnte auch vor dem Verlust von Wald, Ackerflächen und Wasserressourcen.
Der „Kanal Istanbul“ soll durch zwei Wasserreservoirs führen: den Sazlidere-Damm und einen Teil des Terkos-Sees. Die beiden Reservoire decken nach Angaben der Stadt rund ein Drittel der Wasserversorgung Istanbuls. Sazlidere liegt inmitten grüner Wiesen, Schäfer lassen ihre Tiere dort grasen, Straßenhunde streunen am Ufer. Ein Großteil des Sees soll nach derzeitiger Planung zerstört werden. Der Terkos-See bleibt erhalten, doch Experten wie Selahattin Beyaz von der Istanbuler Umweltingenieurskammer warnen, dass das Wasser verschmutzen sowie das Grundwasser versalzen könnte.
Der Wasserbedarf Istanbuls lag der städtischen Wasserbehörde zufolge 2019 im Durchschnitt bei rund 2,8 Millionen Kubikmeter täglich. Die Regierung argumentiert, der Melen-Staudamm in der östlich Istanbuls gelegenen Provinz Sakarya decke den Bedarf der Stadt um ein Vielfaches. Städteplaner Akgün hält das Kanal-Vorhaben trotzdem für „sehr riskant“. Solche Pläne würden trotz Klimakrise und in einer Zeit abnehmender Trinkwasserquellen und Regenfälle gemacht, kritisiert er.
Der prominente Meeresforscher und Kritiker des Kanals, Cemal Saydam, warnt, dass das filigrane ökologische Gleichgewicht des Marmarameers durch den neuen Zulauf zerstört werde. Zusätzliche Biomasse werde abgebaut und gesundheitsschädlicher Schwefelwasserstoff freigesetzt – Istanbul werde nach faulen Eiern riechen, prophezeit er.
Trotz aller Warnungen hält Erdogan jedoch an dem Plan fest. Er nennt den Kanal „ein Werk von Weltklasse“. „Für die Türkei schickt es sich nicht, klein zu denken, und klein zu handeln“, hält er Zweiflern und Kritikern entgegen. (dpa)
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