Erdoğans Konfrontationskurs zu Israel soll politisches Erbe sichern – „Türkei als Führungsmacht der islamischen Welt“

Nach mehreren Anläufen zur Normalisierung der Beziehungen zu Israel herrscht zwischen Ankara und Jerusalem wieder Eiszeit. Für Präsident Erdoğan hat dies auch strategische Gründe: Sein politisches Erbe soll eine Türkei als Führungsmacht der islamischen Welt sein. Eine Analyse.
Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei.
Recep Tayyip Erdoğan, Präsident der Türkei.Foto: Christoph Soeder/dpa
Von 8. November 2023

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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte sich im Mai des Jahres die Wiederwahl und seinem Parteienbündnis die Parlamentsmehrheit sichern können. Da es sich um seine letzte Amtszeit als Staatsoberhaupt der Türkei handelt, muss er keine wahltaktischen Rücksichten mehr nehmen. Es wäre ihm möglich, im Sinne der Normalisierung der Beziehungen zu Israel, die er im Vorjahr verkündet hatte, im Gaza-Konflikt zurückhaltend zu agieren.

Stattdessen befindet sich die Türkei erneut auf maximaler Konfrontation zur Regierung in Jerusalem. Unmittelbar nach dem Massaker der terroristischen Hamas an mehr als 1.400 Zivilisten im Grenzgebiet zu Gaza hatte sich Erdoğan noch als Vermittler angeboten. Er wollte dazu beitragen, die noch in der Gewalt der Terroristen befindlichen mehr als 200 Geiseln zu befreien.

Blinken musste mit Außenminister Fidan vorliebnehmen

Nachdem Israels Premierminister Benjamin Netanjahu einen Austausch gegen 6.000 palästinensische Gefangene abgelehnt und die Armee mobilisiert hatte, änderte sich die Tonlage in Ankara. Erdoğan kündigte an, seine Gesprächskontakte mit Netanjahu abzubrechen.

Wenige Tage später kam es zum wechselseitigen Abzug der Botschafter und Erdogan bezeichnete die Kinder enthauptenden Terroristen der Hamas als „Freiheitskämpfer“. In türkischen Staatsmedien ist der Gaza-Konflikt das Thema Nummer eins – und dabei wird fast ausschließlich aus palästinensischer Perspektive berichtet.

Zuletzt versetzte Erdoğan auch noch demonstrativ US-Außenminister Antony Blinken. Am Sonntag, 5. November, bekundete der Präsident, er sei auf einer Reise am Schwarzen Meer und gedenke nicht, für Blinken nach Ankara zu kommen.

Dieser musste als Gesprächspartner mit Hakan Fidan vorliebnehmen. Dieser galt zwar schon in seiner Zeit als Geheimdienstchef als mächtige Person im Staat, in den USA hatte man angesichts der Tour Blinkens durch den Nahen Osten jedoch auf ein Gespräch mit dem Präsidenten gesetzt. Die USA wollen in Gaza eine humanitäre Feuerpause erreichen. Erdoğan hatte zuvor einen sofortigen Waffenstillstand gefordert.

Erdoğan könnte auch freundlicheren Kurs gegenüber Israel fahren

Im „Standard“ führt man den Kurs der türkischen Regierung und Erdoğans auf die innenpolitische Macht radikalislamistischer und ultranationalistischer Kräfte zurück. Diese spielen in der Türkei eine bedeutende Rolle – und vor allem die Nationalisten hatten bei den Wahlen im Mai an Terrain gewonnen.

Für Erdoğan sind diese jedoch nicht mehr bedeutsam. Er muss keine Wahlen mehr gewinnen – anders als sein noch nicht benannter Nachfolger. Er könnte, wenn er wollte, seine Autorität einsetzen, um der Hamas deutlich zu machen, dass die Türkei ihr Vorgehen nicht billige. Zudem könnte er Israel Solidarität bekunden – selbst unter dem Vorbehalt von Differenzen im Bereich der Palästina-Politik.

Es gäbe zahlreiche Anknüpfungspunkte und gemeinsame Interessen, die es als objektiv sinnvoll erscheinen ließen, enge Beziehungen zwischen der Türkei und Israel zu pflegen. Solche hatte es im Kalten Krieg stets gegeben – und sogar 2005 besuchte der damalige Premierminister Erdoğan Jerusalem und die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.

Beide Länder gelten als verhältnismäßig stabile und wohlhabende Inseln im Krisengebiet des Nahen Ostens – und sind zum Teil von unberechenbaren oder sogar feindseligen Nachbarn umgeben. In beiden Ländern und in deren unmittelbarer Nachbarschaft operieren brutale Terrororganisationen, die ihre territoriale Integrität infrage stellen. Im Jahr 1999 soll Israels Geheimdienst der Türkei den Tipp gegeben haben, der zur Festnahme von PKK-Führer Abdullah Öcalan in Kenia geführt hatte.

Wirtschaftliche, geopolitische und sicherheitspolitische Vorteile für Palästina opfern?

Auch wirtschaftlich bieten sich zahlreiche Kooperationspotenziale. Dies betrifft nicht nur den Tourismus, der in beiden Ländern einen erheblichen Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt leistet. Auch die Energieversorgung ist für die Türkei wie auch für Israel ein Bereich, in dem sich Synergien ergeben können. Dies betrifft sowohl Gaspipelineprojekte als auch Rohstoffvorkommen in der Mittelmeerregion.

Sicherheitspolitisch würden intakte Beziehungen zwischen Ankara und Jerusalem ebenfalls beiden Partnern – und sogar der gesamten Region helfen. Dies gilt umso mehr, als beide Länder zuletzt auch eine Normalisierung mit Saudi-Arabien angestrebt hatten.

Eine Zusammenarbeit der Türkei, Israels und der Golfstaaten würde nicht nur den Einfluss westlicher Staaten, Chinas und Russlands in der Region begrenzen. Es gäbe auch ein klares gemeinsames Interesse, der Hegemonialpolitik des Iran etwas entgegenzusetzen.

Dennoch gelingt es den wirtschaftlich unbedeutenden, terroristisch durchsetzten und vom Iran beeinflussten Palästinenserorganisationen regelmäßig, Annäherungen zu sabotieren.

Mehrheit in der Türkei legt auf Nähe zu Westen oder Israel wenig Wert

Ein Faktor, der die Position der Türkei erklärt, ist, dass eine Mehrheit der Türken im Nahostkonflikt mit den Palästinensern sympathisiert – oder zumindest nicht mit den USA und Israel. Eine möglichst große Nähe zum Westen, zu dem man auch Israel zählt, ist in der Breite der türkischen Bevölkerung schlichtweg nicht gewünscht. Daran ändert es auch nichts, dass eine überwältigende Mehrheit der Türken 2005 den offiziellen Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen begrüßte.

Für die meisten war dabei der pragmatische Faktor ausschlaggebend, dass eine Mitgliedschaft Vorteile für die damals rapide aufstrebende Wirtschaft brächte. Zudem wäre sie mit Erleichterungen für die mehrere Millionen Menschen umfassende türkische Einwanderergemeinschaft in der EU verbunden.

Vor allem die türkische Regierung, die erstmals von der AKP gestellt wurde, sah im Beitrittsprozess eine willkommene Begründung für politische Reformen. Viele davon hätten ohne diesen Kontext einen erneuten Putsch des damals noch strikt kemalistischen Militärs zur Folge haben können.

Prozess der Distanzierung begann bereits Anfang der 2000er

Die „europäischen“ oder „westlichen Werte“ waren hingegen zweitrangig. Bereits im Zusammenhang mit dem Irakkrieg war die öffentliche Meinung stark gegen die USA eingenommen. Dies kam selbst in der Populärkultur zum Ausdruck, wo die „Sackaffäre“ um von US-Truppen gefangengenommene türkische Armeeangehörige die Filmserie „Tal der Wölfe“ inspirierte. Im Jahr 2006 wurde der stark mit nationalistischen und religiösen Botschaften aufgeladene erste Teil zu einer der erfolgreichsten Produktionen der türkischen Filmgeschichte.

Die Frage des Verhältnisses zum Westen war auch ein entscheidender Punkt beim Bruch zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung. Beide hatten noch gemeinsam den Reformprozess weg vom Kemalismus in den 2000ern unterstützt. Das Gülen-Netzwerk wollte das post-säkulare Land dann aber generell auf einen prowestlichen Kurs bringen. Die Mehrheit in der AKP lehnte dies kategorisch ab.

Rassistische Tendenzen in EU-Staaten und eine zunehmende Einmischung europäischer Regierungen in die türkische Innenpolitik sorgten für eine noch tiefere Distanz. Gleichzeitig stieg die Identifikation vieler türkischer und muslimischer Einwanderer, vor allem aus der jüngeren Generation, mit Erdoğan, der regelmäßig dem Westen die Meinung sagte.

Annäherungen an Israel folgte stets eine neue Konfrontation

Gegen Ende der 2000er-Jahre deutete sich erstmals ein Bruch mit Israel an. Der Krieg in Gaza im Winter 2008/09 veranlasste den damaligen Premier Erdoğan zu dessen „One Minute“-Auftritt auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Erdoğan beschuldigte Israel damals während einer Podiumsdiskussion, an der auch sein Amtskollege Shimon Peres teilnahm, „Kinder zu töten“ und wie ein „Schurkenstaat“ zu handeln.

Ein Jahr später kam es zur Erstürmung der Mavi Marmara. Das von der Hamas-nahen „Internationalen Humanitären Hilfsorganisation“ (IHH) organisierte Schiff war von der Türkei aus gestartet. Ihr Versuch, die seit 2007 bestehende Blockade des Gazastreifens zu durchbrechen, endete mit der Erstürmung des Schiffes. Als Besatzungsmitglieder die Sicherheitskräfte angriffen, machten diese von ihren Schusswaffen Gebrauch. Dabei starben zehn Personen, darunter neun türkische Staatsangehörige.

Der Vorfall hatte eine tiefgreifende Belastung der diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern zur Folge. Erst eine Entschuldigung des israelischen Premiers Benjamin Netanjahu im Jahr 2013 und die Zustimmung zur Zahlung einer Entschädigung an die Angehörigen der Getöteten beendete diese kurzfristig.

Solidarität mit YPG weckt in Ankara nach wie vor Revanchegelüste

Der Krieg in Gaza 2014 brachte erneut eine Eiszeit zwischen beiden Ländern mit sich, der 2016 eine neuerliche Erklärung der Annäherung folgte. Ende der 2010er solidarisierte sich dann Israel mit PKK-nahen Kämpfern und verurteilte die türkische Militäroffensive im Norden Syriens. 2020 stufte Israels Geheimdienst die Türkei als potenzielle Gefahr ein. Im Jahr 2021 sorgte ein weiterer Gaza-Krieg für neuerliche Spannungen, ehe 2022 wieder eine Annäherung erfolgte.

Einen vollständigen oder auch nur weitreichenden Abbruch der bilateralen Beziehungen zu Israel will Ankara auch jetzt nicht riskieren. Allerdings hat Erdoğan auch kein Interesse daran, als konstruktiver Partner den USA einen diplomatischen Erfolg in der Region zu ermöglichen.

Immerhin weigern diese sich nach wie vor, der Türkei Kampfjets des Typs F-16 zu liefern, weil es dafür keine Mehrheit im Kongress gibt. Zudem hat man den USA nicht vergessen, dass man vonseiten Washingtons statt protürkischer Milizen die PKK-nahen „Volksverteidigungskräfte“ (YPG) im Kampf gegen den IS bewaffnet hat.

Palästinenser-Kult als einigende Erzählung der Muslime

Der Hauptgrund dafür, dass Erdoğan an seiner bedingungslosen Loyalität mit den Palästinensern festhält, dürfte jedoch das Interesse an der Wahrung seines politischen Erbes liegen. Schon in der Vergangenheit sahen Beobachter seinen Anti-Israel-Kurs nicht primär als Ausdruck einer ideologischen Politik. Was Erdoğan und wohl auch seinem möglichen Nachfolger, dem mächtigen Ex-Geheimdienstchef Hakan Fidan, jedoch klar ist, ist die Bedeutung des Palästina-Narrativs in der islamischen Welt insgesamt.

Vor allem in den Massen stellt dieses ein Dogma dar, das Muslime im Zweifel über alle sonstigen Differenzen hinaus vereinigt. Die Bindungswirkung ist dabei so stark, dass selbst mächtige Staatenführer wie Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed bin Salman diese nicht ignorieren können. Deshalb gelang es der Hamas auch, mit ihrem brutalen Terror den Normalisierungsprozess zwischen Jerusalem und Riad zu unterminieren.

Man wusste, dass Israel entschlossen antworten würde – und jedes zivile Opfer in Gaza die Muslime gegen Israel einnehmen würde. Auch der Türkei war dies schnell klar. Deshalb war auch Ankara klar, dass Distanz zu den Palästinensern in der islamischen Welt mehr Rückhalt gekostet als im Westen verdient hätte.

Mit „Vatikan-Strategie“ zu neuem globalem Gleichgewicht?

Das strategische Ziel Erdoğans war weder eine Zugehörigkeit zum Westen noch eine exklusive Bindung an Russland, China oder an arabische Staaten. Dass eine Vielzahl außenpolitischer Kurswechsel in seiner Ära das Vertrauen anderer Länder in die Türkei untergraben haben, beruht auch auf Gegenseitigkeit.

Der Kurzzeit-Parteichef der „Allianz Deutscher Demokraten“ (ADD), Remzi Aru, äußerte Mitte der 2010er-Jahre: „Türken können nur Türken vertrauen.“ Diese Überzeugung dürfte die außenpolitische Ausrichtung Ankaras auch nach der Ära Erdoğan bestimmen. Dazu gehört, sich auf eigene Stärken zu verlassen und deshalb die eigene Rüstungsindustrie und die eigene Energiewirtschaft auszubauen.

Aber auch die Pflege eines Images der Türkei als Führungsmacht der islamischen Welt – unabhängig von den politischen Führern der jeweiligen Staaten – ist ein wichtiger Aspekt. Mit der Pflege des Palästinenser-Kultes und aggressiver Rhetorik gegen Israel in Konfliktzeiten kann sich Erdoğan des Beifalls der Massen sicher sein. Dies gilt im Übrigen nicht nur in den islamischen Staaten, sondern auch in muslimischen Einwanderercommunitys wie in Deutschland.

Dieser moralische Rückhalt, so die wahrscheinliche Strategie, könnte sich in der Zukunft für die Türkei in ähnlicher Weise in machtpolitisches Kapital verwandeln wie jener von Papst Johannes Paul II. in der Zeit des Kalten Krieges. So wie dieser zum Fall des Sozialismus im Ostblock beigetragen hatte, soll demnach die Türkei eine künftige globale Machtverschiebung anstoßen – getreu Erdoğans Motto:

Die Welt ist größer als fünf [ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats].“



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