Erdoğan geht nach Ausschreitungen in die Offensive – Warum die Proteste wenig bewirken

In der Türkei spitzt sich die politische Lage zu: Nach der Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoğlu protestieren Tausende. Die Regierung geht mit Massenverhaftungen gegen die Demonstranten vor. Während Justizminister Yılmaz Tunç harte Maßnahmen ankündigt, wächst die Unruhe innerhalb der Opposition – und die Frage nach Erdoğans Nachfolge bleibt offen. Istanbul hat unterdessen einen neuen Bürgermeister.
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Abdullah Öcalan (75) rief am 27. Februar 2025 seine PKK dazu auf, die Waffen niederzulegen. Das Bild zeigt eine Kundgebung seiner Unterstützer in Diyarbakir im Südosten der Türkei.Foto: Ilyas Akengin/AFP via Getty Images
Von 27. März 2025

In der Türkei gehen die Proteste gegen die Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoğlu weiter. Im Zusammenhang mit einer Besetzung des Rathauses sind einem Bericht von „CNN Türk“ zufolge am Dienstag, 25. März, 206 Personen festgenommen worden. Von diesen sollen sich sieben, darunter sieben Journalisten, nach wie vor in Gewahrsam befinden.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt unter anderem wegen des Verdachts der Verstöße gegen das Versammlungsgesetz, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Beleidigung des Präsidenten.

Justizminister wirft CHP-Chef „bösartige Form der Desinformation“ vor

Unterdessen hat Justizminister Yılmaz Tunç angekündigt, hart gegen Personen vorzugehen, die sich im Zuge der Demonstrationen strafbarer Handlungen schuldig gemacht hätten. Man werde „einen Vandalen nach dem anderen“ identifizieren und zur Rechenschaft ziehen. Das Portal „Hürriyet Daily News“ zitiert Tunç mit den Worten:

„In einem Rechtsstaat übt man seine juristische Verteidigung nicht auf der Straße aus. […] Wir werden weiterhin daran festhalten, die öffentliche Ordnung zu verteidigen.“

Tunç übte speziell Kritik am Vorsitzenden der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Imamoğlus Parteifreund Özgür Özel für dessen Aussagen in einem CNN-Interview. Dieses hatte Özel am Montag gegeben. Der Justizminister äußerte dazu:

„In einem ausländischen Medium zu behaupten, die türkische Justiz sei nicht unabhängig, ist nichts weniger als eine bösartige Form der Desinformation.“

Außerdem kritisierte er Özel für dessen Boykottaufruf gegen Unternehmen, denen dieser vorwarf, zu regierungstreu zu agieren. Dazu gehören staatliche Unternehmen wie Turkish Petroleum, Milangaz und Likitgaz sowie der öffentlich-rechtliche Rundfunk TRT und die halbstaatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Auf der Liste stehen jedoch auch die Einzelhandelskette Demirören oder die Kaffeehauskette Espressolab.

Die Türkei setzt Hochschulabschluss für Kandidatur voraus

Studenten der Universitäten in den Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir haben derweil einen separaten Boykottaufruf gestartet. Außerdem hatten sie Kommilitonen und akademisches Personal für Dienstag dazu aufgerufen, einen Tag lang alle Aktivitäten an den Hochschulen einzustellen.

Die CHP hat İmamoğlu am vergangenen Sonntag trotz des Haftbefehls zum Präsidentschaftskandidaten für 2028 gekürt. Von 1,7 Millionen Mitgliedern der Partei sollen sich 1,6 Millionen an der Abstimmung beteiligt haben. Zudem sollen mehr als 13,2 Millionen ihre Stimmen für den mittlerweile suspendierten Istanbuler Bürgermeister an sogenannten Solidaritätsboxen abgegeben haben. Özgür Özel nannte diese Zahlen, eine unabhängige Verifizierung ist nicht möglich.

İmamoğlu steht im Fokus von Korruptionsermittlungen. Es wird ihm unter anderem vorgeworfen, ein entsprechendes System innerhalb seiner Stadtverwaltung gekannt und geduldet zu haben. Ebenfalls erhobene Vorwürfe der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung sind hingegen offenbar vom Tisch. Allerdings hat die Universität Istanbul dem CHP-Hoffnungsträger aufgrund eines „unrechtmäßigen Universitätswechsels“ den Hochschulabschluss aberkannt.

Der CHP-Präsidentschaftskandidat hat dagegen Berufung eingelegt. Sollte die Entscheidung aufrecht bleiben, würde der Wahlausschuss seine Kandidatur nicht zulassen, da die türkische Verfassung einen akademischen Abschluss als Kandidaturvoraussetzung benennt.

Weitere Kandidatur Erdoğans nicht erlaubt – Umgehung aber möglich

Ob das Vorgehen der Universitätsverwaltung und der Justiz von Präsident Recep Tayyip Erdoğan beeinflusst ist, ist ungewiss. Die Anzeige bezüglich des behaupteten Korruptionsschemas soll aus der eigenen Partei gekommen sein, wo es seit der Absetzung des Langzeitchefs Kemal Kılıçdaroğlu schwere interne Konflikte geben soll.

Die nächsten Präsidentschaftswahlen stünden 2028 an. Die Verfassung würde dem 71-jährigen Erdoğan eine weitere Kandidatur untersagen. Außerdem hatte dieser selbst angekündigt, nicht mehr antreten zu wollen. Es wäre jedoch möglich, dass der Staatschef das Kandidaturhindernis durch eine vorgezogene Neuwahl oder Verfassungsänderung beseitigt.

Dagegen spricht, dass Erdoğan trotz einer nach wie vor hohen Beliebtheit in seinen Kernwählerschichten geringere Chancen auf eine Wiederwahl hätte als zuvor. Bereits 2023 musste er sich einer Stichwahl gegen Kılıçdaroğlu stellen, obwohl diesem seit Mitte der 2010er-Jahre das Image eines „ewigen Zweiten“ anhaftete.

Stiftung Dialog und Bildung: Erdoğan perfektioniert das „Teile und herrsche“

Vor allem die weiterhin angespannte ökonomische Lage in der Türkei würden die möglichen Chancen Erdoğans auf eine Wiederwahl schwächen. Umfragen von Anfang des Jahres zufolge hätte er zwar einen leichten Vorsprung gegenüber İmamoğlu. Allerdings läge er in der Wählergunst deutlich hinter dem CHP-Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş.

Gleichzeitig zeichnet sich kein möglicher Nachfolger für Erdoğan ab, dem in einer Präsidentschaftswahl gute Chancen eingeräumt würden. Bis dato galt Außenminister Hakan Fidan als Favorit auf die Erdoğan-Nachfolge. Allerdings haben ihm Umfragen trotz außenpolitischer Erfolge der Türkei keine hohen Beliebtheitswerte attestiert.

Im „Deutsch-Türkischen Journal“ (DTJ) schreibt der Vorsitzende der Stiftung Dialog und Bildung, Ercan Karakoyun, Erdoğan konnte bislang immer auf den Erfolg des Prinzips „Teile und herrsche“ vertrauen. Er habe einen politischen oder medialen Rivalen nach dem anderen ausgeschaltet – ob aus der CHP, aus der kurdischen Gemeinde oder aus dem Gülen-Netzwerk, dessen deutsche Stimme Karakoyun darstellt.

Dass ihm das gelingen konnte, liege daran, dass die einzelnen Oppositionsgruppen zwar Erdoğan ablehnten, aus historischen Ressentiments heraus jedoch untereinander keine Solidarität übten. Für den Staatschef sei dies das entscheidende Plus:

„Der Grund dafür ist, dass er die türkische Gesellschaft und ihre Geschichte wie kein Zweiter versteht. Er ist sich dessen bewusst, dass es keine gesellschaftlich relevante Gruppe in der Türkei gibt, die nicht mit irgendeiner anderen eine Rechnung offen hätte.“

Beleidigungen und Respektlosigkeit kosten öffentlichen Rückhalt

Zwar handelt es sich bei den derzeitigen Protesten in der Türkei um die größten seit mindestens zehn Jahren. Dennoch spricht wenig dafür, dass sie Erfolg haben. Das von Karakoyun angesprochene Misstrauen zwischen Kemalisten, Religiösen und Angehörigen von Minderheiten ist ein Faktor, der dabei eine Rolle spielt. Ein weiterer ist, dass radikale Elemente es der Regierung zunehmend erlauben, die Protestierenden in die Defensive zu drängen.

Bei der Besetzung des Rathauses skandierten Demonstranten Beleidigungen gegen Erdoğans verstorbene Mutter. In der Türkei gilt dies weit über politische Grenzen hinweg als nicht hinnehmbarer Tabubruch. Entsprechend sahen sich auch Oppositionspolitiker von Özel über Yavaş bis zu İmamoğlu und dessen Frau zu einer persönlichen Distanzierung veranlasst.

Im Istanbuler Stadtteil Fatih besetzten Demonstranten zudem die Şehzadebaşı-Moschee. Dort sollen sie Alkohol konsumiert, Besucher angepöbelt und Sachschäden angerichtet haben. Auch dieser Vorfall erleichtert es Erdoğan, die Proteste als Angriff extremer und antireligiöser Kräfte gegen die türkische Gesellschaft insgesamt zu framen.

Geringeres ausländisches Interesse als bei Gezi-Protesten

Anders als bei den Gezi-Protesten von 2013 halten sich auch ausländische Politiker bislang zurück. Zwar haben mehrere Vertreter der EU bereits Besorgnis über die Verhaftung Imamoğlus zum Ausdruck gebracht. Allerdings wurden kaum Konsequenzen angedroht. Auch sind noch keine Politiker oder Vertreter parteinaher Stiftungen in die Türkei gereist, um sich mit den Protestierenden zu solidarisieren.

Vor zwölf Jahren beteiligte sich beispielsweise die Grünen-Politikerin Claudia Roth persönlich an den Protesten. Ausländische Medien räumten den Teilnehmern breiten Raum ein, Musiker wie Roger Waters oder die Band Massive Attack solidarisierten sich auf Konzerten in Istanbul mit der Protestbewegung. Das ausländische Interesse nutzte die AKP-Regierung, um die Gezi-Revolte als Versuch einer von außen gesteuerten Farbrevolution zu brandmarken.

Seit dem gescheiterten Putschversuch von Militärkreisen im Juli 2016 sitzt die Regierung Erdoğan fest in Sattel. Vor allem die Gülen-Bewegung wurde mit Massenverhaftungen überzogen und der Staatsapparat systematisch von behaupteten oder tatsächlichen Sympathisanten gesäubert. Damit verschwand ein zwar religiöses, aber auch prowestliches Element aus Entscheidungspositionen. Die Verschärfung der Antiterrorgesetze erleichterte jedoch auch das Vorgehen gegen die säkulare oder die kurdische Opposition. Die AKP konnte sich zudem die Rückendeckung des größten Teils des nationalistischen Lagers sichern.

Das Schicksal der Türkei wird nicht durch Protestbewegung entschieden

Perspektivisch werden nicht die studentischen und urbanen Protestbewegungen aus den Metropolen über die Entwicklung der Türkei entscheiden. Diese verkörpern nur einen kleinen und ohnehin bereits gegen Erdoğan eingenommenen Teil der Bevölkerung – auch wenn ihre Stimme in der westlichen Öffentlichkeit laut ist. Zudem hat die Wahl eines neuen Bürgermeisters in Istanbul den Protesten den Schwung genommen. Mit deutlicher Mehrheit wählte der Stadtrat am Mittwoch mit Nuri Aslan einen CHP-Politiker zum Nachfolger Imamoğlus. In den zahlreichen Fällen, in denen im Südosten des Landes HDP-Bürgermeister wegen Terrorismusverdachts des Amtes enthoben wurden, trat meist ein AKP-Kandidat an dessen Stelle.

Entscheidend wird vielmehr sein, ob das Zweckbündnis aus der AKP und den Nationalisten hält. Die AKP kann nach wie vor auf das religiöse und ländliche Publikum bauen, außerdem auf alle Bevölkerungsteile, die materiell von der Politik der derzeitigen Regierung profitieren. In den Reihen der Nationalisten sind hingegen nicht mehr nur kurdische Autonomiebestrebungen, sondern auch die Zahl syrischer Geflüchteter Anlass zum Unmut. Ein Kandidat wie Mansur Yavaş, der vor seinem Übertritt in die CHP der rechtsnationalistischen MHP angehörte, könnte als Unabhängiger die Fronten neu ordnen.

Aus Europa oder den USA wird hingegen kaum Druck auf Erdoğan kommen, meint Aslı Aydıntaşbaş von der Brookings Institution. Gegenüber der AFP erklärte sie, Erdoğan nutze einen „günstigen geopolitischen Moment“, um İmamoğlu aus dem Verkehr zu ziehen. Er könne darauf bauen, dass es vonseiten des Westens keine nennenswerten Konsequenzen geben werde.

Brookings: USA haben „wenig Interesse an einer wertebasierten Außenpolitik“

Die Regierung Trump in den USA habe ohnehin „wenig Interesse an einer wertebasierten Außenpolitik“. Die Europäer, für die Werte die zentrale Rolle spielen, bräuchten die Türkei jedoch in mehrerlei Hinsicht. Ankara sei ein entscheidender Faktor, um Syrien nach der Flucht von Präsident Baschar al-Assad zu stabilisieren.

Außerdem sei der NATO-Partner am Bosporus entscheidend für eine „nachhaltige europäische Sicherheitsarchitektur“ nach einem möglichen Ende des Ukrainekrieges. Die Türkei habe als eines von wenigen Ländern sowohl zu Russland als auch zur Ukraine intakte Kommunikationskanäle und sei zudem ein wichtiger Player im Bereich der Verteidigungsindustrie.

Die Sprecherin des US-Außenministeriums, Tammy Bruce, sagte jüngst auf Nachfrage, Washington werde „keine internen Entscheidungsprozesse anderer Länder kommentieren“. Von der Türkei erwarte man, dass diese sich „in einer Weise verhält, die die Rechte aller Bürger respektiert“. Außenminister Marco Rubio hat am Dienstag bei seinem Türkei-Besuch gegenüber seinem türkischen Kollegen Hakan Fidan seine „Besorgnis“ geäußert.



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