Endet heute das juristische Tauziehen? Assange will Auslieferung an USA mit Berufung stoppen
In Großbritannien könnte sich heute die Auslieferung von Wikileaks-Gründer Julian Assange an die USA entscheiden. Der Londoner High Court überprüft in einer zweitägigen Anhörung die Entscheidung eines Richters vom vergangenen Juni.
Dieser hatte es Assange verweigert, gegen seine Auslieferung in Berufung zu gehen. Das Gericht soll nun endgültig darüber entscheiden, ob in Großbritannien alle Rechtsmittel für Assange ausgeschöpft sind – oder ob er weiter vor britischen Gerichten gegen seine Auslieferung vorgehen darf.
Sollte seinem Antrag auf Berufung am High Court nicht stattgegeben werden, wäre der Rechtsweg in Großbritannien ausgeschöpft. Assanges Unterstützer haben für diesen Fall angekündigt, auch noch vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu ziehen. Dort werde sein Team umgehend einen Antrag auf einstweilige Verfügung stellen, um eine sofortige Auslieferung zu verhindern, kündigte Stella Assange an. Möglicherweise könnte die britische Regierung eine solche Anordnung ignorieren.
Unterstützer riefen für beide Tage der Anhörung zu Kundgebungen vor dem Gerichtsgebäude Royal Courts of Justice auf. Für Mittwoch war auch ein Marsch zum Regierungssitz 10 Downing Street geplant.
Assanges Frau Stella befürchtet, dass der 52-Jährige schon binnen weniger Tage in ein Flugzeug in Richtung USA gesetzt werden könnte, wie sie in der vergangenen Woche vor Journalisten in London sagte. Sie fürchtet wegen der erwarteten harschen Haftbedingungen in den USA und der labilen Psyche ihres Mannes um sein Leben.
Vertrauliche Dokumente veröffentlicht
Das US-Justizministerium will dem Australier in den USA wegen Spionagevorwürfen den Prozess machen. Assange wird beschuldigt, ab 2010 rund 700.000 vertrauliche Dokumente über militärische und diplomatische Aktivitäten der USA veröffentlicht zu haben.
Die Papiere enthielten brisante Informationen über die US-Einsätze im Irak und in Afghanistan, unter anderem über die Tötung von Zivilisten und die Misshandlung von Gefangenen. Im Falle einer Verurteilung droht dem 52-jährigen Australier eine jahrzehntelange Haftstrafe – bis zu 175 Jahre.
Assange hofft auch auf politische Lösung
Der Australier sitzt seit seiner Festnahme im April 2019 im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh. Zuvor hatte er sich mehrere Jahre in der ecuadorianischen Botschaft in der britischen Hauptstadt dem Zugriff der Strafverfolgungsbehörden entzogen. Diese hatten ihn zunächst wegen Vergewaltigungsvorwürfen in Schweden ins Visier genommen. Diese Vorwürfe wurden später aus Mangel an Beweisen fallen gelassen.
Neben einem Erfolg im juristischen Tauziehen erhofft sich Assange eine politische Lösung. Die australische Regierung setzt sich inzwischen für eine Freilassung ihres Staatsbürgers ein. Erst in der vergangenen Woche verabschiedete das australische Parlament einen Beschluss, in dem die USA und Großbritannien aufgerufen wurden, die Strafverfolgung Assanges zu beenden.
Regierungschef Anthony Albanese betonte, die Angelegenheit ziehe sich schon zu lange hin. US-Außenminister Antony Blinken hat den Forderungen nach einem Ende der Strafverfolgung bislang immer wieder Absagen erteilt.
Unterstützer: Angriff auf Pressefreiheit
Unterstützer sehen in Assange einen Journalisten, der Kriegsverbrechen ans Licht brachte und an dem ein Exempel statuiert werden solle. Die Strafverfolgung gegen ihn halten sie für einen Angriff auf die Pressefreiheit, weil Assange die ihm zugespielten Informationen veröffentlichte.
Für eine Freilassung des 52-Jährigen setzen sich weltweit Menschenrechtsorganisationen und Journalistenverbände ein. Die Vorsitzende der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju), Tina Groll, forderte kurz vor Beginn der Anhörung in London ein Ende der Strafverfolgung. Die britische Justiz könne mit einer Absage an das Auslieferungsersuchen der USA ein „unmissverständliches Signal für demokratische Grundwerte“ setzen, so Groll.
„Wikileaks hat maßgeblichen Anteil daran, dass die Weltöffentlichkeit die schmutzige Seite der US-Kriegseinsätze erfuhr“, betonte der Bundesvorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbands, Mika Beuster. „Dafür verdient Julian Assange Auszeichnungen und nicht Haft.“
Eine Chronologie
2010
Von Juli bis Oktober veröffentlicht die Enthüllungsplattform Wikileaks rund 470.000 als geheim eingestufte Dokumente, die mit diplomatischen Aktivitäten der USA und mit den Kriegen in Afghanistan und im Irak zu tun haben. Weitere 250.000 Dokumente kommen später hinzu. Die Papiere enthalten brisante Informationen über die US-Einsätze in diesen Ländern, unter anderem über die Tötung von Zivilisten und die Misshandlung von Gefangenen.
Im November erwirkt die schwedische Staatsanwaltschaft einen internationalen Haftbefehl gegen Assange. Ihm werden Vergewaltigung und sexuelle Gewalt gegen zwei Frauen vorgeworfen.
Assange weist die Anschuldigung zurück und stellt sich kurz darauf der Polizei in London. Bis zur Entscheidung über einen Auslieferungsantrag Schwedens kommt er gegen Kaution auf freien Fuß.
2011 und 2012
Im Februar gibt ein britisches Gericht dem schwedischen Auslieferungsantrag statt. Assange äußert sich besorgt: Er fürchtet, dass Schweden ihn an die USA ausliefern könnte.
Assange flieht im Juni 2012 in die Botschaft Ecuadors in London und beantragt erfolgreich politisches Asyl.
2016 und 2107
Vor der US-Präsidentschaftswahl veröffentlicht Wikileaks rund 20.000 E-Mails aus dem Parteiapparat der Demokraten. Sie stammen aus dem Wahlkampfteam der Kandidatin und früheren Außenministerin Hillary Clinton, die die Wahl letztlich gegen Donald Trump verliert.
2017 stellt die Staatsanwaltschaft in Schweden die Ermittlungen gegen Assange ein.
2018 und 2019
Ecuador erklärt, es sei auf der Suche nach einem Vermittler, um Assanges „unhaltbare“ Situation zu beenden. Im März 2018 kappt das Botschaftspersonal Assanges Kommunikationszugänge. In den USA taucht ein Dokument auf, wonach gegen Assange offenbar heimlich Anklage erhoben wurde.
2019 erklärt Ecuadors Präsident Lenín Moreno, Assange habe die Auflagen für sein Botschaftsasyl „wiederholt verletzt“. Nach sieben Jahren in der Botschaft nimmt die britische Polizei Assange im April fest, nachdem ihm zuvor das Asyl entzogen wurde. Im Mai wird der Australier zu 50 Wochen Haft wegen Verstoßes gegen Kautionsauflagen verurteilt.
Ende Mai verschärft die US-Justiz ihre Anklage gegen Assange. Dem Wikileaks-Gründer werden nun auch Verstöße gegen Anti-Spionage-Gesetze vorgeworfen.
2020
Ende Februar beginnt in London die Hauptanhörung im Auslieferungsverfahren gegen Assange. Im April wird bekannt, dass der Wikileaks-Gründer während seines Asyls in der Botschaft von Ecuador zweimal Vater wurde. Das enthüllt die Mutter der beiden kleinen Jungen, Stella Moris. Sie war Mitglied von Assanges Anwaltsteam und ist nach eigenen Angaben seit 2017 mit ihm verlobt.
Anfang September wird das wegen der Corona-Pandemie unterbrochene Auslieferungsverfahren fortgesetzt. Ein Psychiater bescheinigt Assange vor Gericht eine Suizidgefährdung. Der Australier sei hochgradig depressiv und habe Halluzinationen.
2021
Das zuständige Londoner Gericht entscheidet am 4. Januar, dass Assange nicht in die USA ausgeliefert werden darf. Wegen der strikten Haftbedingungen in den Vereinigten Staaten bestehe das „beträchtliche“ Risiko, dass sich Assange im Gefängnis das Leben nehmen könnte. Die US-Regierung legt Berufung ein.
Im Dezember gibt der High Court in London der US-Seite recht und hebt das Auslieferungsverbot auf. Kurz darauf gibt Assanges Verlobte Moris bekannt, dass der Wikileaks-Gründer Ende Oktober einen leichten Schlaganfall erlitten habe.
2022
Assange zieht im Januar vor den Supreme Court in London. Am 14. März entscheidet das Oberste Gerichtshof jedoch, sich nicht mit dem Berufungsantrag des Australiers gegen seine Auslieferung zu befassen.
Am 23. März heiraten Assange und Moris. Sie geben sich im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh im Süden Londons das Ja-Wort.
Am 20. April erlässt der Westminster Magistrates Court schließlich einen Auslieferungsbeschluss. Am 17. Juni unterzeichnet Innenministerin Priti Patel die entsprechende Anweisung zur Auslieferung. Dagegen legt Assange Anfang Juli Berufung ein.
(afp/dpa/ks)
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