Ein halbes Jahr Krieg in Osteuropa
Der Ukraine-Russland-Krieg hat sich verändert. Er ist für Russland von einem Angriffs- zu einem Abnutzungskrieg übergegangen, sagt Marc Martin, hochkarätiger Fachmann mit Schwerpunkt internationale Sicherheits- und Verteidigungspolitik. In einer Analyse für die Epoch Times erklärt er, dass sich die Weltlage auch durch den NATO-Beitritt Schwedens und Finnland verändert habe. Mit diesem Schritt sei die Ostsee beinahe zu einem „NATO-Binnenmeer“ geworden.
Marc Martin ist ein weithin anerkannter Politikforscher. 1986 schloss er ein interdisziplinäres Studium der Internationalen Geschichte und Politik, des Internationalen Rechts und der Internationalen Wirtschaft an der Universität Genf ab. Seinen Doktortitel für Politische Wissenschaften erlangte er 2003 am Hochschulinstitut für Internationale Studien der Universität Genf. Seither arbeitet er viersprachig auf hohen Ebenen als Berater und Forscher.
Epoch Times fragte Marc Martin, inwieweit der russische-ukrainische Krieg die strategische Lage in der Welt und die Ukraine selbst verändert hat. Aus Platzgründen wurden in der Wochenzeitung Ausgabe 58 am 20. August nur zwei Fragen der umfangreichen Analyse aufgegriffen. Hier nun seine vollständige Analyse. Die Fragen stellte Bernd Oliver Bühler.
War die Einschätzung vieler westlicher Staaten, insbesondere der meisten EU-Mitgliedsstaaten, darunter Deutschland, dass wirtschaftliche Beziehungen und der damit verbundene Wirtschaftswohlstand für beide Seiten (Win-Win-Situation) einen Krieg unmöglich machen, eine Fehleinschätzung?
Mit einer historischen Analyse kann man feststellen, dass die Hypothese „wirtschaftliche Beziehungen und der damit verbundene Wirtschaftswohlstand ist ein Garant für Frieden“, die für manche zum Glaubenssatz geworden ist, nicht zutrifft.
Zwei Beispiele, welche diese Hypothese klar widerlegen: Zum Zeitpunkt des Attentats auf den österreich-ungarischen Thronfolger in Sarajevo am 28. Juni 1914 über die Julikrise und bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien am 28. Juli 1914 hätten sämtliche späteren Kriegsparteien ein wirtschaftliches Interesse gehabt, den Frieden zu wahren. Sie hätten weder ihren wirtschaftlichen Aufschwung der „Belle Époque“, noch ihre Kolonialreiche und den damit verbundenen Handel durch einen Krieg in Gefahr bringen müssen. Sie taten es trotzdem.
Gleiches auch um 1940: Nach den Abschlüssen des Kreditabkommens vom 19. August 1939, des Nichtangriffsvertrags mit geheimem Zusatzprotokoll vom 23. August 1939, des Deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrags vom 28. September 1939, des Wirtschaftsabkommens vom 11. Februar 1940 und des Wirtschaftsabkommens vom 10. Januar 1941 zwischen Deutschland und der UdSSR wäre es aus rein wirtschaftlichen Interessen (Rohstofflieferungen aus der UdSSR) für Deutschland nicht logisch gewesen, einen Krieg gegen die UdSSR zu beginnen. Am 22. Juni 1941 kam es mit Beginn des Unternehmens Barbarossa anders.
Was konkret den Krieg zwischen der Ukraine und Russland angeht, so war klar, dass Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und anderen Staaten (EU- und/oder NATO-Mitglieder) Russland nicht davon abhalten würden
- eine pro-russische Regierung in Kiew auch mit gewaltsamen Mitteln zu stützen (11/2013-02/2014 Euromaidan-Revolution für Assoziierungsabkommen mit der EU und Flucht des Präsidenten Wiktor Jankuowytsch der dies verhindern wollte, nach Russland am 22. Februar 2014);
- Teile der Ukraine mit De-facto-Organen der Russischen Föderation zu besetzen, die dort anwesenden pro-russischen Rebellen militärisch zu unterstützen, die Macht zu übernehmen, ethnische Säuberungen vorzunehmen und anschließend Referenden zur Legitimierung unter der ethisch gesäuberten Bevölkerung abzuhalten. (Krim annektiert am 18. März 2014, Separatistengebiete im Donbas/Osten der Ukraine. Donezk und Lugansk stehen im Krieg mit dem von der Regierung in Kiew kontrollierten Rest der Ukraine seit 13. April 2014.)
- ab dem 24. Februar 2022 die Ukraine von Belaruss, der Russischen Föderation, Donetzk, Lugansk und der Krim aus zu versuchen, militärisch zu erobern.
Denn zur gleichen Zeit wurden Projekte wie die Nord-Stream-1-Pipeline (Eröffnung: 11/2011) weiterbetrieben. Der Vertrag zur Konstruktion der Nord-Stream-2-Pipeline wurde noch im Juni 2015 unterschrieben, die Konstruktionsarbeiten begannen im Mai 2018, also nach Euromaidan, Krim-Anschluss und Donbas-Rebellion.
Übrigens haben EU-und NATO-Mitgliedstaaten wie Estland, Lettland, Litauen, Polen schon früh vor wirtschaftlicher Abhängigkeit von Russland und dessen Expansionsdrang gewarnt, sie fanden allerdings kein Gehör, vor allem nicht in Deutschland und Frankreich.
Hätten die russischen Oligarchen Wladimir Putin und seine direkten politischen und militärischen Berater davon abhalten können, den erneuten Krieg gegen die Ukraine, welcher am 24/02/2022 begann, anzufangen?
„Oligarchen“ im Sinne einer relativ kleinen Gruppe der reichsten Menschen in einem Staat, welche auf der Basis ihres Reichtums auch die politische Macht in diesem Staat innehalten, gibt es in Russland nicht. So definierte Aristoteles „Oligarchen“.
Warum? Sämtliche „Superreichen“ in Russland, die ihr Geld wie auch immer verdient haben und in den Medien als „Oligarchen“ bezeichnet werden, haben keine politische Macht.
Selbst ihr Reichtum (soweit sie diesen nicht außerhalb von Russland investiert oder gebunkert haben) hängt nur von Putins Gnaden ab, denn Putin kann durch seinen realen Einfluss auf die Justiz und die Exekutive in Russland (darunter auch die Geheimdienste) jeden dieser „Superreichen“ wirtschaftlich und physisch liquidieren.
Diese „Superreichen“ sind also keine „Oligarchen“. Sie haben nicht die politische Macht, um Putin von seinen Zielen und seinem Handeln abzuhalten. Im Gegenteil, Putin diktiert den „Oligarchen“, was sie zu tun und zu lassen haben. Dies wird besonders anschaulich, wenn man die Fernsehberichte sieht, in denen Putin die „Oligarchen“ einberuft, um sie über seine Entscheidungen zu informieren. Da wird von Putin keine Mitsprache – nicht mal Vorschläge – geduldet.
Bestand während des großen Manövers der russischen und belarussischen Streitkräfte in Belarus und dem darauf folgenden Angriff auf die Ukraine, der am 24. Februar 2022 begann, die Gefahr, dass die NATO in den Krieg hineingezogen würde?
Während dieser Periode gab es Hinweise, die auf Fakten basierten und die eine Ausweitung des Krieges auf NATO-Staaten möglich machten, sowohl vor als auch nach dem 24. Februar. Besonders betroffen sind die NATO-Staaten, die eine gemeinsame Grenze mit Belarus haben: Lettland, Litauen und Polen, aber auch Estland, welches im Fadenkreuz der Russen steht.
– Im Nordatlantik, nördlich der Küsten von Irland und Nordirland wurden vermehrt Aktivitäten russischer U-Boote in Nähe atlantischer Seekabel (Glasfaserkabel) entdeckt. Diese Kabel sind neben Satelliten ein wichtiger Teil des Datenaustauschnetzes zwischen den amerikanischen NATO-Staaten und den europäischen NATO-Staaten.
Solche Kabel haben zwei Schwachpunkte. Zum einen sind sie relativ einfach in Küstennähe zu finden, da sie dort wegen der Gefahr, dass sie durch Scherbretter der Schleppnetze beschädigt werden, mit Bojen markiert sind. Sie brauchen zum anderen heute nicht mehr im wortwörtlichen Sinne (also mechanisch) angezapft zu werden, um den Datenfluss abzufangen oder zu stören. Hierfür gibt es mittlerweile Vorrichtungen, die Torpedos ähnlich sehen und direkt neben dem Kabel abgelegt werden.
– Die russischen Truppen, welche an dem Manöver in Belarus teilnahmen, hatten nach US-Geheimdienstinformationen weitaus größere Mengen an Blutkonserven als für Unfälle im Manöverbetrieb notwendig sind. Es waren Mengen, die darauf schließen ließen, dass ein Kriegseinsatz bevorstand.
Ab dem 24. Februar 2022 gab es während des Überfalls auf die Ukraine bei Logistik, Taktik und Material der russischen Angreifer derart markante Ungereimtheiten, dass die Operation ein Täuschungsmanöver der Russen hätte sein können, um mit einer Hauptstreitmacht an anderer Stelle zuzuschlagen.
Die Lage war heikel, hier die Gründe
Anstatt zuerst, und zwar vor Beginn einer Bodenoffensive, die absolute Lufthoheit durch Zerstörung von Radaranlagen, Boden-Luft-Raketenbatterien, Fliegerhorsten, Flughäfen, provisorischen Start- und Landebahnen, Jagdflugzeugen, Flak-Stellungen und Luftverteidigungsbefehlsständen zu erlangen, wurden vereinzelte militärische Ziele in der Ukraine angegriffen.
Obwohl die russischen Bodentruppen in einer idealen Ausgangsstellung an der Nordgrenze der Ukraine standen, um entlang der West- und Ostufer der Flüsse Dnepr, Prypjat, Desna, dann Inhulez und Südlicher Bug mit Schwerpunktbildungen und Geschwindigkeit über Nord-Süd-Angriffsachsen nach Süden möglichst synchron vorzustoßen, taten sie das nicht. Sie hätten so die wichtigen Brücken und Staudämme über die Flüsse möglichst schnell und unbeschadet einnehmen können.
Im Gegenteil. Durch zu viele Angriffe wurden Schwerpunktbildungen unmöglich gemacht und so den Angriffen die nötige Schnelligkeit genommen. Mit einer Ausnahme – den Vorstoß von der Krim nach Norden ans Ostufer des Dnepr, um die Wasserversorgung der Krim zu sichern.
Obwohl Russland den Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, waren die dortigen Truppen in puncto Logistik, technischem Zustand der Waffen und Geräte, Training der Soldaten (und dies nach längerem Manöver in Belarus) ungenügend für solch einen Einsatz.
Der Nachschub kam wegen technischer Ausfälle von Lastwagen zum Erliegen – wegen verrotteter Reifen. Zudem waren sich die Soldaten beim Kontakt mit der ukrainischen Bevölkerung nicht bewusst, dass sie in Feindesland waren. Die am besten versorgten, ausgerüsteten und trainierten russischen Truppen könnten also woanders in Wartestellung sein.
Die neuesten Waffensysteme der russischen Landstreitkräfte konnten nirgends auf dem Territorium der Ukraine gesichtet werden. So vermisste man die Panzerfahrzeuge auf Basis der Armata-Plattform.
Diese neuesten Waffensysteme könnten also woanders auf ihren Einsatz warten. Der Einsatz des T-14 hätte außerdem wegen des besondern Schutzes seiner Panzermannschaft die Annahme bestätigt, dass eine neue russische Militärdoktrin angewandt würde. Diese könnte lauten, dass die eigenen Verluste an Soldaten zu reduzieren sind. Doch dem ist nicht der Fall im Ukraine-Krieg.
Inwieweit scheint es realistisch, die seit 2014 von Russland besetzten Territorien der Ukraine ganz oder teilweise zurückzugewinnen?
Was dafür spricht, dass zumindest Teile des Territoriums der Ukraine zurückerobert werden können:
1. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat sich für Russland vom ursprünglichen Plan eines 72-Stunden-Eroberungskriegs der gesamten Ukraine mit Zerfall des Regimes in Kiew zu einem Abnutzungskrieg entwickelt.
Das zeigen drei Dinge: der Rückzug der russischen Truppen an der ukrainischen Nordgrenze und Verlegung dieser Truppen an die Ostgrenze der Ukraine nach der verlorenen Schlacht um Kiew. Zweitens das langsame Vorankommen der russischen Truppen in der Ost-Ukraine und drittens die Gegenoffensiven der ukrainischen Truppen, darunter der Erfolg bei Charkiw.
Zudem rekrutieren die Russen mittlerweile Soldaten auf freiwilliger Basis, um Verluste auszugleichen. Dabei muss man unterstreichen, dass es keine verlässlichen Zahlen von Verwundeten und Gefallenen gibt. Das könnte für die Russen in einer nächsten Etappe die Generalmobilmachung bedeuten.
Dieser Abnutzungskrieg ist kein vom „Westen“ oder den USA geplanter Krieg, sondern hat sich aus einem von Russland angefangenen und missglückten Angriffskrieg entwickelt hat.
Zweitens haben die Russen mit der Verlegung von Truppen von der Nordgrenze der Ukraine in den Osten der Ukraine ihre ideale Angriffsstellung mit Nord-Süd-Angriffsachsen entlang beider Ufer der ukrainischen Flüsse ausgetauscht. Sie haben nun eine schlechtere Angriffsstellung mit Ost-West-Angriffsachsen, welche die Überquerung der Flüsse von Ost nach West mit Brückenkopfbildung nötig machen.
Ukrainer nutzen ihre Waffen effektiv
Drittens haben die Ukrainer bewiesen, wie effizient sie ihre vorhandenen Waffen mit einer der Situation angepassten Taktik gegen den Angreifer benutzen.
– Sie haben sowohl die Luftwaffenbefehlsstände im Land als auch die vorhandenen Jagdflugzeuge auf viele Start- und Landebahnen verteilt. Dabei nutzen sie auch provisorische Flugplätze, um möglichst wenig große Ziele abzugeben.
– Ihre Radaranlagen positionierten sie so nahe wie möglich an denen des Feindes. Daher hat der Feind Schwierigkeiten, die eigenen Anlagen von denen der Ukrainer zu unterscheiden. Es wird verzichtet, die ukrainischen Anlagen aus der Luft anzugreifen – um eigene Anlagen nicht dem Risiko vom „Friendly-Fire“ auszusetzen.
– Mit regulären Bodenstreitkräften (Armee und Territorialverteidigung) und Partisanen bleiben sie nahe am Feind, um diesen auszukundschaften. Dabei können Ukrainer normalerweise Russisch, die Russen meist jedoch kein Ukrainisch. Auch hier wird der Feind so bekämpft, dass der seine Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber nicht voll einsetzen kann, da er sonst im „Friendly-Fire“ seine eigenen Truppen beschießen würde. Die Ukrainer konnten so Waffen wie die „Next Generation Light Anti-Tank Weapon“, das „Javelin Medium Antiarmor Weapon System“, die Panzerfaust 3 und FIM-92 Stinger-Geschosse effizient einsetzen. Alle die eben aufgezählten Waffen sind einfach zu handhaben, von einem Soldaten zu tragen und abzufeuern und benötigen nur eine kurze Ausbildung an der Waffe.
– Ukrainer nutzen gewöhnliche zivile Drohnen zur Aufklärung von Feindstellungen und Feindbewegungen.
– Das Gefecht der verbundenen Waffen funktioniert bei den Ukrainern nicht nur beim Einsatz von Militär- und Territorialeinheiten, sondern auch, wenn diese mit Partisanen zusammen kämpfen.
– Partisanen werden auch zu Aufklärungszwecken und zum Umgang von Kollaborateuren (diese werden oft durch Autobomben angegriffen) im rückwärtigen Raum des Feindes zurückgelassen (Stay-behind-Taktik).
– Die ukrainischen Streitkräfte bekämpfen im Gegensatz zu den russischen Streitkräften nur militärische Ziele. Dabei kann es zwar zu Kollateralschäden kommen, es wird allerdings keine Munition für nicht-militärische Ziele vergeudet und der Nutzen der vorhandenen Waffen optimiert. Daher werden auch auf taktischer und strategischer Ebene keine sogenannten Prestigeziele anvisiert.
– Mit den AeroVironment Switchblade 300 und AeroVironment Switchblade 600 (beide loitering munitions) können die ukrainischen Streitkräfte angreifende und in Wartestellung bleibende Panzerkräfte und Nachschubfahrzeuge der Russen effizient vernichten und so den russischen Offensiven die Dynamik nehmen.
– Hauptsächlich mit den Multiple Launcher Rocket Systems und den High Mobility Artillery Rocket Systems M142 hat die Ukraine Artilleriesysteme, die durch ihre Reichweite Logistik und Aufmarschzonen des Gegners zerstören können. Sie bieten durch ihre Mobilität dem Gegner nur kurzfristig ein Ziel. Diese Artilleriesysteme werden individuell eingesetzt und bewegen sich jeweils in Begleitung und im Schutz seiner eigenen Panzergrenadier- und Flugabwehr-Einheit. Das ist eine neue Taktik beim Einsatz der selbstfahrenden Artillerie.
Alle die vorher beschriebenen Fakten können die Offensiven der Russen zum Erliegen bringen. Sie können aber auf lange Sicht höchstens die russischen Streitkräfte in diesem Abnutzungskrieg derart schwächen, dass diese die besetzten Gebiete aufgeben müssten.
Rückeroberung der Krim erscheint kurzfristiger möglich
Um eine Rückeroberung aller von den Russen besetzten Gebiete kurz oder mittelfristig zu ermöglichen (nicht zu garantieren) und diese Gebiete dann gegen eine neue Offensive der Russen abzusichern, brauchen die Ukrainer mehreres.
Sie müssen ihre Luftverteidigung ausbauen und modernisieren, um die absolute Luftüberlegenheit über ihrem Territorium wiederzuerlangen. Zudem müssen sie ihre mobilen Landstreitkräfte ausbauen und modernisieren, das betrifft Kampfpanzer, Schützenpanzer, Panzerhaubitzen, MLRS, Flak-Panzer und Raketen-Luftabwehr-Panzer und die dazugehörigen Versorgungs- und Pionierfahrzeuge. Gleiches trifft auf Bodenkampfflugzeuge, Kampfdrohnen und Kampfhubschrauber zu, um die russischen Besatzungstruppen aus der Luft fast gänzlich zerstören zu können.
Kurzfristiger, jedoch nicht unbedingt kurzfristig, könnte allerdings die Krim befreit werden. Und zwar nicht durch eine direkte Rückeroberung durch ukrainische Streitkräfte, sondern durch die Einnahme und Reparatur der zerstörten Staumauer des Nord-Krim-Kanals. Dieser befindet sich 3 bis 4 Kilometer süd-süd-östlich der Staumauer des Dnepr zwischen Nowa Kachowka und Tawrijsk.
Durch diesen Kanal laufen ungefähr 85 Prozent der gesamten Wasserversorgung der Krim. Eine reparierte oder ersetzte Staumauer erlaubte die Sperrung des Abflusses des Dnepr in den Nord-Krim-Kanal, was die russischen Besetzer zur Aufgabe der Krim nötigen würde.
Dieses Ziel würde in greifbare Nähe rücken, wenn die Ukrainer die Stadt Cherson einnähmen. Dazu müssten sie die Antonowski-Brücke zerstören und so die russischen Truppen am rechten Ufer des unteren Dnepr von ihrem Nachschub vom linken Ufer abschneiden. Ein Sieg über die russischen Truppen am rechten Unterlauf des Dnepr würde den Weg freimachen zur Rückeroberung der Dnepr-Staumauer und der jetzt noch zerstörten Nord-Krim-Kanal-Staumauer.
Dr. Martin, inwieweit verändert dieser Krieg die strategische Lage weltweit?
In dieser Fragestellung bündeln sich eine Vielzahl von Fragen. Der Verständlichkeit der Zusammenhänge halber fangen wir beim eigentlichen Ukraine-Krieg an. Dann erweitern wir schrittweise unser Blickfeld auf die gesamte Welt.
Russland und die Ukraine
Der Ukraine-Krieg entwickelt sich für Russland zusehends von einem Angriffskrieg zu einem Abnutzungskrieg. Er bindet knapp 25 Prozent der russischen Truppen. Das bedeutet eine signifikante Schwächung seiner konventionellen militärischen Fähigkeiten im Vergleich zu allen anderen Staaten auf der Welt, da diese mit wenigen Ausnahmen wie die Internationale Legion der Territorialverteidigung der Ukraine nicht direkt mit Streitkräften im Ukraine-Krieg beteiligt sind.
Die weltweiten Lieferungen an Weizen aus der Ukraine, welche für die Bevölkerung in vielen Drittweltstaaten lebenswichtig sind, bleiben – auch wenn sie jetzt anlaufen – weiterhin vom Wohlwollen Russlands abhängig. Sie können jederzeit von Russland unterbrochen werden. Dies erhöht einerseits die Macht Russlands gegenüber diesen vom ukrainischen Weizen abhängigen Ländern. Es kann aber auch zu Aufruhr und Hass gegen Russland in diesen Ländern führen. Dem Ansehen Russlands bei der UNO und auch bei nichtstaatlichen internationalen Hilfsorganisationen hat dies schon jetzt massiv geschadet.
Russland zeigt den EU-Mitgliedstaaten und den kontinental-europäischen NATO-Staaten, wie abhängig sie von russischem Gas, zum Beispiel durch Nord Stream 1, Yamal-Europe-JAMAL, Soyuz-Transgas, Brotherhood-Transgas, Southstream, Bluestream, und Erdöl sind – und somit, wie erpressbar sie dadurch sind.
Entwicklungen bei der NATO
Anstatt die NATO-Staaten durch Drohungen zu spalten, hat Russland deren Einigkeit gestärkt. Auch die Türkei hat schließlich ihre Position gegen einen Beitritt Finnlands und Schwedens zur NATO revidiert.
Die Drohungen Russlands gegen alle baltischen Staaten führten dazu, dass Finnland und Schweden ihre dauernde Neutralität aufgaben und am 5. Juli 2022 ihre Mitgliedschaft in der NATO beantragten. Dazu trugen auch die zunehmende militärische Aktivität im Baltikum, die Marine und die wahrscheinliche Stationierung von Mittelstreckenraketen mit nuklearen Sprengköpfen in der Oblast Kaliningrad bei.
Mit Schweden und Finnland wird die NATO nicht nur territorial ausgedehnt, sondern bekommt auch zwei militärisch gut gerüstete Alliierte direkt an die Grenze Russlands. Die Pufferzone neutraler Staaten zwischen Russland und der NATO verschwindet.
Mit dem Beitritt Finnlands zur NATO sind jetzt die zwei NATO-Mitgliedstaaten Finnland und Norwegen so nahe an die Halbinsel Kola herangerückt, dass ein konventioneller Angriff auf die dortigen russischen Militärbasen möglich werden kann. Die Basen gehören zur russischen Nordmeerflotte, zu russischen SSBN bei Gadzhiyevo (Ship Submersible Ballistic Nuclear, Atom-U-Boote mit ballistischen Raketen) und zum Super-Low-Frequency-Sender von ZEVS (dem russischen 82-Hertz-ELF-Transmitter). Dadurch kann die nukleare Zweitschlagfähigkeit der russischen Seekriegsflotte weltweit beeinträchtigt werden. Die anderen Basen für die russischen SSBN liegen auf der Halbinsel Kamtschatka im Pazifik (russische Pazifikflotte, Vilyuchinsk).
Durch die eben erwähnte NATO-Erweiterung steigert sich das Risiko einer Blockade Russlands und der Russischen Baltischen Flotte in der Ostsee aus drei Gründen:
- Erstens könnten Dänemark und Schweden die Meerengen zwischen westlicher Ostsee und Kattegatt kontrollieren.
- Zweitens könnten Estland und Finnland und damit zwei NATO-Mitgliedstaaten die Kontrolle über die Ausfahrt des Finnischen Meerbusens erhalten. Damit könnten Sankt Petersburg und die Basen der Russischen Baltischen Flotte entlang der russischen Küsten des Finnischen Meerbusens blockiert werden.
- Und drittens wird durch den Beitritt Schwedens und Finnlands die Ostsee mit Ausnahme der Oblast Kaliningrad und der russischen Küsten am Finnischen Meerbusen mit der Stadt Sankt Petersburg fast in ein NATO-Binnenmeer verwandelt.
Den kontinental-europäischen NATO-Mitgliedstaaten zeigt der Ukraine-Krieg, wie wichtig die USA als NATO-Partner für ihr Überleben und die Verteidigung ihrer Werte im Falle eines Angriffs auf sie sind.
Dass sie nicht auf US-Militär- und Waffenhilfe verzichten können und sollen, wird besonders klar im Falle der Zusage Deutschlands, nun den F-35 anzuschaffen, anstatt auf die Entwicklung eines deutsch-französischen Flugzeugs zu warten. Ebenfalls entschied sich Berlin für den Kauf von 60 „CH-47F Chinook Block II“-Hubschraubern. Im Falle eines Angriffs auf Europa ist zu erwarten, dass die heimischen Industrien, besonders die Rüstungsindustrien, derart zerstört würden, dass die Rüstungsgüter außerhalb hergestellt werden müssten. Sie würden hauptsächlich aus den USA kommen und dann nach Europa geliefert werden.
Sämtliche europäische NATO-Mitgliedstaaten haben den Wert des Artikel 5 des Nordatlantikvertrags verstanden. Durch die Möglichkeit eines schnellen Angriffs Russlands auf NATO-Mitgliedstaaten wird sich allerdings zumindest bei einigen der kontinental-europäischen Staaten die Frage stellen, ob jener Artikel 5, der militärische und automatische Hilfe für den angegriffenen Partnerstaat nicht zwingend vorsieht, durch einen Artikel, der dies vorsieht, ersetzt werden könnte.
Für die NATO läutet der Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ein Weckruf ein, eine Zeitenwende. Sie muss sich wieder auf die Kernaufgabe der Verteidigung der NATO-Partner konzentrieren, anstatt Out-of-area-Einsätze (außerhalb des NATO-Gebietes) zu machen. Dies ist schon wegen der ständig beschränkten militärischen und finanziellen Mittel nötig.
Entwicklungen in der Welt
China beobachtet genau, inwieweit der Westen in Europa und in Amerika (im Sinne von USA, NATO-Mitgliedstaaten und EU-Mitgliedstaaten) wirtschaftlich und militärisch bereit und fähig ist, seine Werte und Interessen im Falle des Ukraine-Kriegs gegen Russland zu verteidigen.
Schwächen des Westens gegenüber Russland werden von Peking für sich als mehrfache Ermutigung verstanden:
– als Ermutigung zu einer geopolitischen Expansion (Taiwan-Frage, Ausdehnung von Einflussgebieten und Militärbasen im Südchinesischen Meer und darüber hinaus im Pazifik und Indischen Ozean);
– als Ermutigung zu einer verstärkten Unterdrückung im eigenen Land von Minderheiten, Andersdenkenden (zum Beispiel uigurische Moslems, Falun Gong, Katholiken, Intellektuelle) und Unabhängigkeitsbewegungen (zum Beispiel Uiguren, Hongkong);
– und als Ermutigung zur Bildung von Allianzen mit allen, die die westlichen Werte infrage stellen oder bekämpfen wollen und das System der Vereinten Nationen sowie das bestehende Völkerrecht abschaffen wollen. Das sind in erster Linie Staaten wie Russland, Iran, Syrien und Nordkorea, in zweiter Linie Staaten, die sich von der Allianz mit China wirtschaftliche oder militärische Vorteile erhoffen wie die BRICS-Staaten: Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika.
Staaten wie Australien, das Vereinigte Königreich, die USA, Japan, Neuseeland, Südkorea und Taiwan beobachten ihrerseits, wie China, Nordkorea und Indien auf einen Erfolg oder Misserfolg Russlands im Ukraine-Krieg reagieren. Sie wollen einerseits militärisch und geheimdienstlich auf einen Angriff Chinas und/oder Nordkoreas und andererseits wirtschaftlich auf eine Allianz zwischen China, Indien und Russland vorbereitet sein.
Die USA und ihr Joint Chiefs of Staff sowie deren Vorsitzender General Mark Alexander Milley wollen durch ihre militärische Unterstützung der Ukraine erreichen, dass Russland derart geschwächt aus dem Abnutzungskrieg in der Ukraine herausgeht, dass es in Zukunft keinen Angriffskrieg gegen ein anderes Land mehr führen kann. Dies könnte China als Lektion dienen, auf selbige Aggressionspolitik zu verzichten.
Eine sehr umfangreiche Antwort. Offen bleibt noch: Was hat dieser Krieg in der Ukraine selbst verändert?
Vor der Euromaidan-Revolution (11/2013-02/2014) gab es zwar einen ukrainischen Staat, aber noch keine ukrainische nationale Identität. Es gab pro-russische und pro-ukrainische Bevölkerungsteile.
Irgendwann zwischen dem Euromaidan und dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine oder spätestens an diesem 24. Februar 2022 hat sich ein ukrainisches Nationalgefühl entwickelt.
Dies ist in der Geschichte äußerst selten, und zwar dass eine Nation aus einem Staat geboren wird und nicht umgekehrt, dass ein Nationalgefühl zur Gründung eines Staates führt.
Das einzige mir bekannte Beispiel einer solchen Geburt einer Nation nach der Staatsgründung ist Luxemburg, dessen staatliche Existenz beim Wiener Kongress (1814/1815) beschlossen wurde und dessen Nationalgefühl, also die Nation erst mit dem Angriffskrieg Deutschlands am 10. Mai 1940 geboren wurde.
Ob Ukraine oder Luxemburg, in beiden Fällen war eine fremde Aggression der Auslöser zur Geburt einer Nation, deren Staat schon vorher existierte.
Die Fragen stellte Bernd Oliver Bühler. Auszüge erschienen als erstes in der Wochenzeitung Ausgabe 58 vom 20. August 2022.
vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.
Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.
Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.
Ihre Epoch Times - Redaktion