Ein brillianter Putsch in der EU durch Juncker: #Selmayrgate bringt Brüssel in Wallung
Es ist die Geschichte eines Deutschen, der binnen weniger Jahre eine der mächtigsten Figuren in Brüssel wurde. Die Geschichte eines Beamten, der sich so unentbehrlich machte, dass EU-Kommissionspräsident Juncker ihn holterdipolter 32.000 anderen EU-Beschäftigten vor die Nase setzte.
Eines Mannes, der so viele gegen sich aufbrachte, dass sein Name nun als eigener Skandal-Hashtag im Internet kursiert: #selmayrgate.
Martin Selmayr, 47, kam 2004 zur Brüsseler Behörde. Der Bonner war erst Pressesprecher, dann Wahlkampfmanager, dann Kabinettschef von Juncker. Seit dem 1. März ist er Generalsekretär der EU-Kommission. Der Jurist gilt als fleißig, intelligent und rhetorisch brillant, und niemand bezweifelt ernsthaft, dass er der Aufgabe an der Spitze der Kommissionsbürokratie gewachsen ist. Und doch reißt die Empörung über diese Personalie nicht ab. Von „Putsch“ und „Komplott“ ist die Rede, von Günstlingswirtschaft und Postengeschacher der Extraklasse.
Am Montagabend musste der für das EU-Personal zuständige deutsche Kommissar Günther Oettinger im Europaparlament in Straßburg antreten, um Selmayrs Berufung zu verteidigen. „Es handelt sich um eine korrekte Auswahl nach den Regeln des Statuts“, versicherte Oettinger in bemüht sachlichem Ton.
Doch seine Ausführungen schienen den Zorn der Kritiker eher noch zu schüren. Für sie ist die Sache nach dieser Debatte mitnichten erledigt. Denn es geht in dieser Geschichte offenkundig um weit mehr als die Beförderung eines Brüsseler Bürokraten.
Die Nacht- und Nebel-Aktion
Sie beginnt am 21. Februar kurz nach halb zehn mit der kurzfristigen Ankündigung einer Pressekonferenz des Kommissionspräsidenten. Wobei man wissen muss, dass Juncker fast nie vom 13. Stock des gigantischen Berlaymont-Gebäudes hinabsteigt in den Pressesaal der Kommission. Die Botschaft, die er zu diesem spektakulären Ereignis mitbrachte, schien jedoch, nun ja, wenig einschneidend für das Leben der 510 Millionen Europäer.
Der Generalsekretär der EU-Kommission, Alexander Italianer, habe heute um Versetzung in den Ruhestand gebeten, und zwar schon in zehn Tagen, am 1. März, sagte Juncker.
Deshalb habe er seinen Kabinettschef Martin Selmayr als Nachfolger nominiert und das Kollegium der Kommissare habe soeben zugestimmt. Selmayr habe alle nötigen Qualitäten und werde den neuen Job so herausragend meistern wie seinen bisherigen. Die perfekte Lösung, alternativlos quasi.
Merkwürdig bei diesem Auftritt nur die in typischer Juncker-Manier eingestreute Pointe, Italianer habe ihm schon 2015 angekündigt, dass er im März 2018 abtreten wolle. „Ich habe das niemandem gesagt“, verriet Juncker halb scherzhaft, „denn ich bin der einzige in der Kommission, der Geheimnisse bewahren kann.“ Es war der Startpunkt dieser seltsamen Affäre.
Nur einer wusste vorher Bescheid
Denn in den nächsten Tagen stellte sich heraus – und wurde auch von der Kommission bestätigt: Selmayr war in derselben Sitzung zunächst zum Vize-Generalsekretär bestimmt worden. Dieser Posten war Ende Januar öffentlich ausgeschrieben, und dafür hatte Selmayr ein Bewerbungsverfahren samt Assessment-Center und Vorstellungsgesprächen durchlaufen.
Als dann Juncker – nach zweieinhalb Jahren Schweigen – urplötzlich den Abschied seines Spitzenbeamten Italianer verkündete, stand der frischgebackene Vize-Generalsekretär Selmayr praktischerweise bereit.
Binnen weniger Minuten wurde Junckers Getreuer gleich noch einmal befördert, diesmal auf den Chefsessel des höchsten Beamten der Kommission. Die perplexen 27 Kommissare hoben die Hand zu scheinbar vollendeten Tatsachen – man habe nichts gewusst, bestätigte Sozialkommissarin Marianne Thyssen dem Portal „Politico“.
Vorgewarnt war nur Oettinger, der als Personalverantwortlicher am Vortag das obligatorische Bewerbungsgespräch für den Vizeposten mit Selmayr geführt hatte, dem einzigen Bewerber in der Endrunde des Verfahrens.
All dies extrahierten Reporter teils in vertraulichen Gesprächen mit den überrumpelten Kommissaren, die nachträglich ins Grübeln kamen, teils in rhetorischen Scharmützeln beim Mittagsbriefing der Kommission.
Dort beteuerten Junckers Sprecher wieder und wieder, alle Regeln seien sklavisch eingehalten worden. Selmayr hätte vom Kabinett direkt in das Spitzenamt wechseln können – der deutsche Beamte aber habe hyperkorrekt das Bewerbungsverfahren gewählt. Im übrigen habe man nun wirklich alles lückenlos beantwortet.
Die Journalisten aber mussten die zentralen Fragen immer und immer wieder stellen: Warum kein geordnetes Verfahren? Wieso diese Hast? Weshalb ließ Juncker alle im Dunkeln, während sein Vertrauter Selmayr wochenlang akribisch den Karrieresprung vorbereitete – ohne lästige Konkurrenz?
„Ein kühner Griff nach der Macht“
Der französische Journalist Jean Quatremer von „Liberation“, einer der bohrendsten Frager im Pressesaal, nennt Selmayrs Beförderung
einen brillant ausgeführten Putsch, der dem 47 Jahre alten deutschen Bürokraten fast totale Kontrolle über die EU-Maschinerie gegeben hat“.
Ein nicht genanntes EU-Kommissionsmitglied zitiert er mit den Worten: „Wir beobachteten einen tadellos vorbereiteten und kühnen Griff nach der Macht.“
Auch im Inneren der Mammutbehörde rumort es. Der Chef der EU-Belegschafts-Gewerkschaft R&D, Cristiano Sebastiani, beklagt in einem Brief an Selmayr einen „spektakulären Fall“ von Postenschieberei und verlangt in einem weiteren Schreiben von Oettinger Aufklärung.
Das fordern auch viele im EU-Parlament. Mauschelei, Intrige, Vetternwirtschaft, Skandal – in der Debatte am Montagabend ging es hoch her. Der deutsche Christdemokrat Werner Langen war noch relativ ruhig, als er „eine Machtübernahme in der EU durch die Hintertür“ konatatierte und hinzufügte:
Mich erinnert das an die Augsburger Puppenkiste, wo oben einer die Fäden zieht und unten die Puppen tanzen.“
Abgeordnete aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden wurden deutlich lauter. Die Liberale Sophie in ’t Veld warf der Kommission einen schwerwiegenden Fehler vor, der Linken-Abgeordnete Dennis De Jong sprach von Arroganz. Der französische Grüne Pascal Durand meinte gar: „Sie sind dabei, das europäische Projekt zu zerstören.“
Dem Mann wird alles zugetraut
Die emotionale Wucht dieser Debatte ist kaum verständlich ohne die Vorgeschichte und Selmayrs Wirken seit Junckers Amtsantritt 2014.
Dem Mann, den außerhalb Brüssels kaum jemand kennt, wird hier so gut wie alles zugetraut – das strategische Durchstechen heikler Informationen aus vertraulichen Gesprächen, etwa zum Brexit; politischer Einfluss auf Kommissionsverfahren, etwa im Streit über die deutsche Pkw-Maut; kühle Machtpolitik in der Behörde. „Hassfigur“ fällt regelmäßig in Gesprächen über Selmayr, Rasputin wurde er genannt oder auch „Junckers Monster“.
Hält Selmayr in Brüssel Vorträge über die Zukunft Europas, hören viele fasziniert zu, gerade wegen seiner Nähe zur Macht. Er spricht fantastisch Französisch und Englisch, ein Vorzeigeeuropäer. Im Gespräch kann er zugewandt sein und charmant. Doch sitzt er dabei – im übertragenen und manchmal auch im echten Sinne – auf der Stuhlkante. Auf kritische Fragen kann er schnippisch werden.
Geduld, das sagen Menschen, die ihn lange kennen, sei nicht seine Stärke, vor allem nicht mit jenen, die er für intellektuell unterlegen hält. Und alle, die er jemals zusammengestaucht, abgebügelt und übergemangelt hat, beobachten nun fasziniert, ob und wie er diesen seltsamen Skandal übersteht.
Das wird sich wohl erst in einigen Wochen herausstellen. Die Spitzen des Haushaltskontrollausschusses im Europaparlament nehmen sich die Causa am 19. März vor, etliche Abgeordnete haben zudem schriftliche Fragen gestellt.
„Wenn diese Prozedur den Regeln entsprach, müssen wir die Regeln ändern“, meint der Grüne Sven Giegold. Und droht gleich ein bisschen: „Solange die Aufklärung nicht abgeschlossen ist, darf der Haushalt der Kommission nicht entlastet werden.“ (dpa)
vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.
Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.
Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.
Ihre Epoch Times - Redaktion