Ein Boykottaufruf und viele verfehlte Erwartungen
Noch nie hat eine Abstimmung in Deutschland derart hohe Wellen in der Türkei geschlagen wie die anstehende Bundestagswahl.
Mit seinem Aufruf an die türkischstämmigen Wähler in Deutschland, am 24. September die führenden Parteien zu boykottieren, hat sich Präsident Recep Tayyip Erdogan direkt in den Wahlkampf eingemischt. Zugleich äußerte er die Erwartung, dass nach der Wahl ein Neuanfang möglich sein werde. Doch dafür gibt es keine Anzeichen.
CDU, SPD und Grüne sind „alle Feinde der Türkei“
Erdogan hatte Mitte August „alle meine Bürger in Deutschland“ aufgerufen, weder CDU, SPD noch Grüne zu wählen, da sie „alle Feinde der Türkei“ seien. Stattdessen sollten sie einer Partei ihre Stimme geben, „die der Türkei nicht feindlich gesinnt“ sei. Dies könne auch eine kleine Partei sein, sagte der Präsident, ohne direkt eine Partei beim Namen zu nennen.
In Deutschland stieß dies auf Empörung. Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) sprach von einem „einmaligen Eingriff in die Souveränität“, Regierungssprecher Steffen Seibert verbat sich jede Einmischung in „unsere inneren Angelegenheiten“. Die Türkische Gemeinde erklärte, die Deutsch-Türken bräuchten „keine Belehrungen in Sachen Demokratie“.
Der Boykottaufruf hat die deutsch-türkischen Beziehungen weiter belastet, die wegen der Inhaftierung mehrerer Deutscher und der zunehmenden Einschränkung der Bürgerrechte in der Türkei sowie Vorwürfen Ankaras, die Bundesrepublik beschütze flüchtige Putschisten und kurdische Separatisten, ohnehin seit Monaten in einer beispiellosen Krise steckt.
Türken wählen die Linken
Studien zufolge stimmen die türkeistämmigen Wähler in Deutschland traditionell vor allem für die SPD und andere linke Parteien. Wen sie nun laut Erdogan wählen sollen, ist unklar. Zwar gibt es mit der BIG und der ADD zwei Erdogan-nahe Parteien, doch boykottiert die eine die Bundestagswahl, und die andere tritt nur in Nordrhein-Westfalen an.
Yunus Ulusoy glaubt ohnehin nicht, dass Erdogans Boykottaufruf große Auswirkung auf die Entscheidung türkischstämmiger Wähler haben wird. „Die Empfehlung Erdogans wird nur die Gruppe der Deutsch-Türken beeinflussen, die sich sehr stark von ihm steuern lässt“, sagt der Forscher vom Zentrum für Türkeistudien in Essen. Und die sei nicht sehr groß.
Auch die Gesamtzahl der türkischstämmigen Wähler sei so gering, dass ihr Einfluss auf den Ausgang der Wahl „komplett zu vernachlässigen“ sei. Schätzungen gehen von 0,7 bis 1,2 Millionen Wähler mit türkischem Hintergrund aus. Einen Gefallen habe Erdogan den Deutsch-Türken mit seiner Intervention auf jeden Fall nicht getan, glaubt Ulusoy.
„Was soll es ihnen bringen, eine Splitterpartei zu wählen?“
„Was soll es ihnen bringen, eine Splitterpartei zu wählen?“, fragt er. Dies wäre eine reine Protestwahl, die keine Probleme der Deutsch-Türken löse. Ein solches Verhalten widerspreche auch der gesamten Politik der Türkei in den vergangenen Jahrzehnte, die immer die türkischen Emigranten gedrängt habe, sich in den etablierten deutschen Parteien zu engagieren.
Hans-Georg Fleck sieht Erdogans Verhalten vor allem innenpolitisch motiviert. Der Präsident lebe von der ständigen Polarisierung und Zuspitzung, sagt der Leiter des Büros der Friedrich Naumann Stiftung in Istanbul. Er brauche die Konfrontation mit Deutschland, um die Reihen zu schließen und seine eigenen Anhänger hinter sich zu halten.
Erdogan überzeugt: Deutschland beschützt bewusst die Gegner der Türkei
Vermutlich habe Erdogan aber weniger aus taktischem Kalkül, als aus einem „Bauchgefühl“ heraus agiert, meint Fleck. Die Vorstellung, dass das Ausland den Türken schaden will, sei tief verwurzelt in der Türkei, und Erdogan sei wohl wirklich überzeugt, dass Deutschland bewusst die Gegner der Türkei beschütze und gegen die Interessen des Landes arbeite.
Die Erwartung Erdogans, dass sich nach der Wahl alles beruhigt, hält Fleck für völlig verfehlt. Schließlich habe er genau die Parteien vor den Kopf gestoßen, mit denen er nach der Wahl zusammenarbeiten muss. Zwar werde die Auseinandersetzung auch durch den Wahlkampf angeheizt, doch würden die Spannungen bleiben – egal, wer die Wahl in Deutschland gewinnt. (afp)
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