Drosten: Corona-Mutation in Indien „medial“ überschätzt – mehrere Faktoren verantwortlich für Situation

In Indien hat sich erneut eine Corona-Welle ausgebreitet. Die Lage in Neu-Delhi erscheint dramatisch. Virologe Christian Drosten bleibt jedoch gelassen und erklärt, wie mehrere Faktoren hier zusammenspielen, die nicht ungewöhnlich sind.
Titelbild
Corona-Patienten in einem Hospital in Indien.Foto: MONEY SHARMA/AFP via Getty Images
Epoch Times28. April 2021

Der Virologe Christian Drosten zeigt sich angesichts der bisherigen Erkenntnisse über die indische Corona-Variante B.1.617 weiter relativ gelassen.

Anhand der sehr kleinen verfügbaren Datenbasis lasse sich schließen, dass die Mutante nicht allein die heftige Infektionswelle in dem Land verursache, „sondern das ist mehr eine bunt gemischte Virus-Population“, sagte der Wissenschaftler von der Charité in Berlin im Podcast „Coronavirus-Update“ (NDR-Info). Auch die ansteckendere Variante B.1.1.7, die mittlerweile hierzulande dominiert, sei stark vertreten.

In Indien kommen derzeit aus Sicht Drostens mehrere Effekte zusammen: Herdenimmunität sei dort einer Studie zufolge bei weitem noch nicht erreicht gewesen. Es werde nun eine Bevölkerung durchseucht, die schon ein bisschen die Anfangsimmunität aus den bisherigen Wellen zu verlieren beginne, sagte der Virologe.

Gleichzeitig sei die Variante B.1.617 etwas verbreitungsfähiger und robuster gegen die Immunität. In der Fachsprache ist von Immunescape (Immunflucht) die Rede. Diese Eigenschaft sei bei B.1.617 leicht ausgeprägt. Das sei auch im Vergleich mit anderen Varianten „nichts, was einen wirklich groß beunruhigt“.

Im Moment halte er die Variante B.1.617 „in der Medienbewertung (für) überschätzt“, sagte Drosten. Auch gebe es keine Belege, dass Menschen durch sie schwerer erkrankten. „Wenn viele Leute zur gleichen Zeit infiziert werden, dann hat man auch bei den jüngeren Altersgruppen auf einmal, absolut gesehen, ganz viele Kranke in einem kurzen Zeitfenster.“

In Indien sei zudem die Grundgesundheit der Bevölkerung weniger gut als in Deutschland, was den Effekt der jüngeren Bevölkerung wieder etwas ausgleiche. Drosten machte aber deutlich, dass sich der Sachstand ändern kann: „Es kann sein, dass in zwei Monaten sich herausstellt, dass doch irgendwas ist mit diesem Virus.“

Chaotische Lage in Neu-Delhi

In Indien ist die Zahl der Corona-Todesfälle auf über 200.000 gestiegen. Am Mittwoch wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums erstmals 3.293 Tote binnen 24 Stunden verzeichnet. Damit sind seit Pandemiebeginn insgesamt 201.187 Menschen in Indien an oder mit dem Virus gestorben. Experten gehen jedoch von einer hohen Dunkelziffer aus. Am Mittwoch wurden zudem rund 360.000 Neuinfektionen registriert – ein neuer weltweiter Höchststand.

Die Zahl der seit Pandemiebeginn Infizierten beläuft sich damit auf 18 Millionen. Allein in diesem Monat kamen fast sechs Millionen neue Fälle hinzu. Das ohnehin schlecht ausgestattete Gesundheitssystem Indiens steht angesichts der rapide steigenden Infektionszahlen vor dem Zusammenbruch. In zahlreichen Krankenhäusern sind medizinischer Sauerstoff und Medikamente knapp. Besonders dramatisch sei die Lage in der Hauptstadt Neu Delhi.

Der deutsche Botschafter in Indien, Walter Lindner, rief zur Solidarität mit dem Subkontinent und zur raschen Bereitstellung von Hilfen auf. „Es gibt Situationen, wo Menschen auf den Straßen vor den Krankenhäusern ersticken, weil sie abgewiesen wurden“, sagte Lindner der Düsseldorfer „Rheinischen Post“ und dem Bonner „General-Anzeiger“ (Mittwochsausgaben). Das Land benötige dringend Sauerstoff, Atemgeräte, Masken und Medikamente.

Den Kampf gegen das Coronavirus bezeichnete Lindner als „Wettlauf gegen die Zeit“. Wenn die Bundeswehr eine mobile Anlage zur Herstellung von Sauerstoff per Lufttransport nach Indien brächte, was derzeit geprüft werde, „könnten hunderte Menschen permanent mit Sauerstoff versorgt werden“, betonte er.

Am Dienstag trafen erste internationale Hilfslieferungen in dem Land ein, unter anderem hundert Beatmungsgeräte und 95 Sauerstoffkonzentratoren aus Großbritannien. Auch Deutschland beteiligt sich an den internationalen Hilfslieferungen.

Ein Flussufer in Delhi. Am 24. April 2021 gab es dort ungewöhnlich viele Leichen, die verbrannt wurden. Foto: Venus Upadhayaya/Epoch Times

Mutante B.1.617 von WHO nicht als „besorgniserregend“ eingestuft

Die Mutante B.1.617 wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bislang nicht als „besorgniserregend“, sondern lediglich als „von Interesse“ eingestuft. Anders verhält es sich mit den Varianten, die zuerst in Brasilien, Südafrika und Großbritannien entdeckt wurden.

Viren verändern sich ständig. Nach einem Bericht von „Welt“ hat das indische Gesundheitsministerium Ende März 2021 auf die Variante hingewiesen. Zu diesem Zeitpunkt wurde sie demnach bei 15 bis 20 Prozent der analysierten Proben in dem am stärksten von der Pandemie betroffenen Bundesstaat Maharashtra nachgewiesen. Jüngsten Angaben zufolge macht B.1.617 in Indien mittlerweile rund 60 Prozent der Corona-Neuinfektionen aus. Auch in 20 weiteren Ländern wurde die Variante bereits festgestellt.

Bisher ist noch unklar, ob B.1.617 mehr schwere Krankheitsverläufe auslöst und damit zu höheren Todeszahlen beiträgt. Das teilte die WHO am Montag mit. Die höheren Todeszahlen könnten auch daran liegen, dass Kliniken ihre Kapazitätsgrenzen erreicht haben.

Die Mutante ist nach Angaben der Organisation bereits in mindestens 17 Ländern nachgewiesen worden. Das geht aus mehr als 1.200 Sequenzen hervor, die bis Dienstag in die Datenbank Gisaid eingespeist wurden. Die meisten der Nachweise außerhalb Indiens stammen demnach aus Großbritannien, den USA und Singapur.

Indien ist eines der bevölkerungsreichsten Länder der Erde. Mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern hat es bisher rund 18 Millionen Infektionen gemeldet. Das sind rund 1,3 Prozent der Bevölkerung. Ins Verhältnis gesetzt mit den Zahlen in Deutschland, bedeuten rund 350.000 Neuinfizierte am Tag in Indien so viel wie etwa 27 Neuinfizierte pro 100.000 Einwohner in Deutschland.

Wie zahlreiche andere Länder hat auch Deutschland einen weitgehenden Einreisestopp verhängt. Seit Montag dürfen nur noch Deutsche und Menschen mit Wohnsitz oder einem Aufenthaltsrecht in Deutschland aus Indien einreisen. Für sie gilt zudem eine Testpflicht vor der Abreise sowie eine 14-tägige Quarantäne nach der Ankunft. (nmc/dpa/afp)



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