„Drei Tote für eine Stimme“: Wie die politische Polarisierung in der Türkei eine Familie auseinanderriss

Am Tag des Verfassungsreferendums 2017 in der Türkei führte ein Streit um das Falten eines Stimmzettels zu einer Eskalation, die am Ende drei Menschen das Leben kostete und eine Familie zerriss. Ein bekannter Journalist ist dem Vorfall im von Kurden bewohnten Dorf Yabanardi nachgegangen und hat die Folgen politisch motivierten Hasses nachgezeichnet.
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Ein Wahlzettel der türkischen Wahl in Diyarbakir im Südosten der Türkei, 24. Juni 2018.Foto: ILYAS AKENGIN/AFP/Getty Images
Von 8. November 2018

Dieser Vorfall selbst war den meisten Nachrichtenagenturen am Tag der Abstimmung allenfalls eine Randnotiz wert. Das Referendum über die von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan initiierte Verfassungsreform am 16. April 2017, das die Türkei in ein Präsidialsystem umwandeln sollte, war im In- und Ausland generell von tiefem Misstrauen, Manipulationsvorwürfen und teilweise auch Ausschreitungen begleitet.

In dem südosttürkischen Dorf Yabanardi in der kurdisch dominierten Provinz Diyarbakir hat der Sonntag des Referendums jedoch nicht nur politische Wunden hinterlassen, sondern auch reale – und tödliche – körperliche. Insgesamt drei Menschen starben an den Folgen von Schusswunden, und das in einem Dorf, das aus nicht mehr als 40 Häusern besteht.

Der türkische Journalist und Filmemacher Murat Can Bilgincan hat sich in einer ausführlichen Reportage für das arabisch-amerikanische Nahost-Onlineportal „Al-Monitor“ mit den Ereignissen vor eineinhalb Jahren auseinandergesetzt und ist vor Ort auf Spurensuche gegangen. Seine Bestandaufnahme hinterlässt in mehrerlei Hinsicht einen bezeichnenden Eindruck. Sie gibt nicht nur Einblick in die eigentümlichen Strukturen des Lebens in südosttürkischen Dörfern, aus denen über die Jahrzehnte hinweg zahlreiche Einwanderer auch ihren Weg nach Europa gefunden hatten. Sie zeigt vor allem auch, welchen toxischen Einfluss eine immer stärkere Polarisierung und politisch motivierte Eskalation auf Gemeinschaften hat.

Bürgermeister führte „Evet“-Lager an, sein Bruder das für „Hayir“

Für die Abstimmung im Schulgebäude der Gemeinde Yabanardi war die Wahlurne 1115 bereitgestellt worden. Die Stimmung war schon im Vorfeld der Abstimmung vergiftet. Der gescheiterte Putschversuch aus dem Juli des Jahres zuvor wirkte noch nach. Präsident Erdoğan argumentierte, dass gerade dieser es erforderlich mache, klare und straffe Entscheidungsstrukturen im Land zu schaffen. Nur ein starkes Präsidialsystem sei in der Lage, Situationen wie diese in den Griff zu bekommen.

Die Opposition hingegen witterte einen weiteren Versuch des Präsidenten und seiner Partei, Andersdenkende mundtot zu machen und sich selbst eine unbeschränkte Macht zu sichern – möglicherweise für die Ewigkeit. Immerhin ging die Zahl jener Personen, die zu diesem Zeitpunkt in der Türkei aus politischen Gründen ihre Arbeit, ihre Ämter oder auch ihre Freiheit verloren hatten, bereits in die Zehntausende.

Vorwürfe von Wahlbetrug oder Manipulation machten bereits lange vor Öffnung der Wahlurnen die Runde, nicht selten waren sie Mittel der psychologischen Kriegsführung. Der AKP-Bürgermeister von Yabanardi, Hidir Yildiz, hatte sich erwartungsgemäß in den Wochen vor der Abstimmung für die Reform und für ein „Evet“ stark gemacht. Im Dorf gab es aber auch erklärte und aktive Gegner des Präsidialsystems – und der Wortführer des „Hayir“.

Ihr Wortführer war niemand Geringerer als Abdurrezzak, der ältere Bruder von Hidir Yildiz. Die Familie gehört der kurdischen Minderheit der Zaza an. Er warf Erdoğan bereits seit dem Ende der Friedensverhandlungen mit der PKK im Jahr 2015 vor, nur nach einem Anlass gesucht zu haben, um mit unerbittlicher Härte gegen ethnische Minderheiten vorzugehen. Zum Zeitpunkt des Referendums saß unter anderem auch der aus der Zaza-Community stammende Mitvorsitzende der prokurdischen HDP, Selahattin Demirtas, wegen Terrorismusvorwürfen in Haft – was die Schärfe des Konflikts zusätzlich verstärkte.

Zu Beginn der 2010er Jahre hatte die Regierung Erdoğan einige bis dahin nicht gekannte Maßnahmen zur Stärkung der Rechte ethnischer Minderheiten, insbesondere der Kurden, getroffen. Im Jahr 2012 begann die türkische Regierung mit dem inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan über ein Ende des Krieges in den Kurdenprovinzen zu verhandeln.

Während dieser Prozess im Ausland begrüßt wurde, gingen einigen Kurden die Schritte nicht weit genug. Gleichzeitig kam Erdoğan unter Druck vonseiten nationalistisch gesinnter Türken, die einen Verrat an den Verfassungsprinzipien und am Erbe der gefallenen Polizisten und Soldaten im Kampf gegen den Terror sahen. Im Jahr 2015 beendete die Regierung in Ankara den Verhandlungsprozess mit einer Militäroffensive, nachdem mutmaßliche PKK-Anhänger im Südosten der Türkei Sicherheitsbeamte ermordet hatten.

Showdown an der Wahlurne 1115

Der Bürgermeister sah sich, wie er Al-Monitor mitteilte, am Tag der Abstimmung beim Eintreffen an der Schule auf eine höchst eigenwillige Weise begrüßt. Es seien acht bis zehn bewaffnete Personen gewesen, die sich dort bereits eingefunden hatten, um nach eigenen Aussagen darauf zu achten, dass keine Stimmen unter den Tisch fielen. Hidir Yildiz ahnte, dass sein Bruder dahinterstecken würde. Um der damit verbundenen potenziellen Einschüchterung von Wählern gegenzusteuern, rief er seinerseits Soldaten aus der nahegelegenen Garnison. Diese trafen 20 Minuten später ein. Abdurrezzak konnte sie jedoch davon überzeugen, dass seine Leute niemanden gefährden würden, sodass diese auf eine Intervention verzichteten.

Als Havva Yildiz, Abdurrezzaks Tochter und Hidirs Schwiegertochter, ihre Stimme abgeben wollte, kam es zum Eklat. Der Bürgermeister warf ihr vor, den Umschlag nicht ordnungsgemäß gefaltet zu haben, forderte sie auf, diesen zu öffnen, damit er hineinpasse, und versuchte, diesen an sich zu bringen. Havva witterte einen Versuch, zu kontrollieren, wie sie abgestimmt hatte, begann zu schreien und gab ihrem Schwiegervater eine Ohrfeige. Die Szene unmittelbar vor dem Tumult ist auf einem Video festgehalten.

Gleich im Anschluss soll eine wüste Auseinandersetzung zwischen mehreren Personen, vor allem Familienmitgliedern auf beiden Seiten, Dorfbewohnern und Abdurrezzaks Entourage ausgebrochen sein. Der Bürgermeister verriegelte die Tür zum Wahllokal von innen, nachdem es den Dorfbewohnern gelungen war, die Begleiter seines Bruders aus dem Gebäude zu drängen.

Wie in weiterer Folge die Lage eskaliert sei, darüber gibt es einander widersprechende Darstellungen. Özlem Yildiz, eine andere Schwiegertochter des Bürgermeisters, erklärte, die Ausgesperrten wären vor der Schule in Lynchabsicht auf ihren Ehemann, den Bürgermeistersohn Mehmet Yildiz, losgegangen. Sie hätte versucht, sich dazwischenzuwerfen. Plötzlich seien Schüsse gefallen. Mehmet habe eine Waffe in der Hand gehabt und seinen Onkel Abdurrezzak sowie dessen Sohn Seyhmus tödlich getroffen.

„Ich habe für den Staat geschossen“

Zwei andere Zeugen, die anonym bleiben wollten, erklärte gegenüber Al-Monitor, Mehmet habe mit einer unter der Jacke versteckten Waffe den Schulhof betreten und ohne Anlass zu schießen begonnen. Daraufhin erst sei er angegriffen worden. Wie die Waffe in seine Hand gekommen sei, konnte sein Vater sich nach eigenen Angaben nicht erklären.

In seiner ersten Vernehmung durch die Gendarmerie habe der mutmaßliche Schütze laut Protokoll selbst erklärt, „für den Staat“ geschossen zu haben. Es sei ihm klar, dafür ins Gefängnis gehen zu müssen.

Die Spannungen in der Familie seien bekannt gewesen. In Wahlzeiten würden die hierarchischen Strukturen in solchen Gemeinden deren Eskalation begünstigen, meint der emeritierte Professor für Politikwissenschaften an der Bilgi-Universität Istanbul, Ilter Turan. In der Gemeinde Yabanardi würden die meisten Einwohner auf Zuwendungen angewiesen sein, die Angehörige ihnen zukommen ließen, die in Deutschland oder in größeren türkischen Städten lebten. Der Bürgermeister Hidir Yildiz hingegen beziehe ein Gehalt vom Staat und verfüge über ein sehr mondänes Haus in dem Dorf, das ansonsten nicht einmal über eine asphaltierte Straße verfüge.

Am Tag des Vorfalls starb noch eine dritte Person: Idris Yildiz, der Sohn des tödlich verwundete Seyhmus, der diesen ins Krankenhaus bringen wollte und dabei mit einem Maschinengewehr beschossen wurde, Einer seiner eigenen Brüder, Mehmet Emin Yildiz, steht im Verdacht, geschossen zu haben. Der Prozess dauert noch an. Seinem Verteidiger zufolge könnte der Verdächtige irrtümlich gedacht haben, er schieße auf den Mörder seiner Verwandten, der zu fliehen versuche.

Als sich die Kunde von dem Vorfall verbreitete, rückte die Armee in das Dorf ein, brachte die Verletzten ins Krankenhaus und stellte die Ordnung wieder her. Polizeiermittler fanden die Waffe von Mehmet Yildiz, die auch die mutmaßliche Tatwaffe war. Auch fanden sich Pulverreste an seiner Kleidung. Seit dem 20. April 2017 sitzt er in Haft. In der Nacht töteten Unbekannte auf dem Bauernhof, den Özlem Yildiz bewirtschaftet, alle Hühner und setzte den Stall in Brand. Es ist von einem Racheakt auszugehen.

Polarisierungskreislauf verstärkt sich, je wahrscheinlicher eine Wende wird

Der Psychologe Murat Paker, der auch an der Bilgi-Universität lehrt, sieht in der zunehmenden politischen Polarisierung nicht den eigentlichen Grund, aber den Auslöser für die Eskalation zwischen den ohnehin im Konflikt stehenden Familien. Die „Ja“-Anhänger unter ihnen fühlten sich sicherer im Glauben, notfalls die Regierung hinter sich zu haben, zudem hieß es im TV, die „Nein“-Wähler seien „Verräter“.

Wo sich führende Politiker wie die Eigentümer eines Staatswesens verhielten, sei es nur noch eine Frage der Zeit, bis jede Seite die jeweils andere als Gefahr betrachte, der man mit allen Mitteln begegnen müsse, meint Paker. Üblicherweise seien es Grautöne, die den sozialen Diskurs beherrschen. Steigert sich die Polarisierung, nähmen jedoch Schwarz und Weiß überhand und die Opposition werde als Feind betrachtet. Es beginne ein Teufelskreis, der in Gewalt enden könne.

In der Türkei ist die Lage historisch bedingt besonders angespannt. Eine Umfrage des German Marshall Fund aus dem Jahr 2016 zufolge erklärten 74 Prozent der befragten Türken, sie wollten nicht, dass ihre Kinder mit solchen Gleichaltrigen spielen, deren Eltern eine andere Partei wählen. Die Polarisierung habe sich seit der Regierungsübernahme durch die AKP im Jahr 2002 verstärkt.

Allerdings sei sie nicht neu. Seit Gründung der türkischen Republik habe es stets Auseinandersetzungen gegeben zwischen Modernisten und Traditionalisten. Dass Erdoğans pro-islamische bis islamistische AKP das Ruder übernommen habe, sei ein Faktor gewesen, der die Polarisierung gefördert habe.

Dies liegt jedoch nicht allein Erdoğan, sondern daran, dass die Modernisten ihren zuvor jahrzehntelang praktizierten Hardcore-Säkularismus nicht mehr wie gewohnt ausüben konnten. „Polarisierung wird spürbarer, wenn ein Systemwechsel zu einer realen Möglichkeit wird“, erklärt Ilter Turan. „Die Modernisten hatten das System bis zur Jahrtausendwende nach Belieben dominiert, und nur mit der AKP-Regierung wurde eine Wende möglich.“

Die Polarisierung und Eskalation als Folge zuvor nicht herausgeforderter Eliten, die erstmals wirklich um ihre Macht fürchten: Möglicherweise erklärt dies auch die Aggressivität, mit der in den USA und Westeuropa die politische Linke und die alte Mitte auf Phänomene wie Donald Trump oder die AfD reagieren.

Lösung durch räumliche Trennung

In der Türkei hat die Regierung Erdoğan mittlerweile auch selbst aktiv die Polarisierung betrieben: Die Herabwürdigung politischer Gegner in Parlamenten und Medien, die Propaganda, die politische Gegner zu Terroristen stempelt oder sie in deren Nähe rückt – lange hatten traditionalistische Kräfte dies selbst erleiden müssen, jetzt praktizieren sie es vielfach selbst.

Özlem, die Frau von Mehmet Yildiz, erklärt, für sie selbst habe das Referendum keine Bedeutung gehabt. Sie sei Hausfrau und für ihr Leben hätte es gar keinen Unterschied gemacht, ob es mit einem Ja oder Nein endete. Sie habe aus Sympathie für Erdoğan mit „Ja“ gestimmt, aber die „Nein“-Anhänger im Dorf seien auch Teil ihrer Familie. Ihre Tochter Dilek meint zu Al-Monitor: „Drei Menschen starben für eine Stimme. Ich glaube nicht, dass es das wert war.“

Am Ende des Tages lag das „Ja“-Lager in Wahlurne 1115 mit 52 zu 23 Stimmen voran. 88 Wahlberechtigte waren demgegenüber gar nicht zur Abstimmung gegangen – obwohl die Wahlbeteiligung insgesamt hoch war.

Den lokalen Gebräuchen zufolge hätte die Familie des mutmaßlichen Mörders das Dorf verlassen müssen, um weiteres Blutvergießen zu verhindern. Das wäre in diesem Fall schwierig gewesen, der Tatverdächtige war der Sohn des Bürgermeisters – und das Opfer ist aus derselben Familie. Was es noch komplizierter machte, war der dritte Todesfall, ausgelöst möglicherweise durch „Friendly Fire“.

Verhandler halfen, eine Lösung gegen die Tradition zu finden. Sie überredeten den Bürgermeister, der verfeindeten Fraktion ihren Grund und Boden abzukaufen. Die Kontrahenten zogen mit dem Geld weg in das 1000 Meilen entfernte, links-säkularistische Izmir. Der politisch aufgeladene Konflikt wird durch räumliche Trennung gelöst.

Eine ähnliche Entwicklung, nur ohne ähnlich gravierende Eskalationen im Vorfeld, zeichnet Experten zufolge auch die Situation in den USA aus. Dort würden linksorientierte Bundesstaaten wie Kalifornien oder Oregon immer linker, weil Konservative diese verließen und Liberale sich dort ansiedelten. In der Gegenrichtung würden konservative Hochburgen wie Wyoming oder Texas „rechter“, weil Republikaner aus Kalifornien dorthin gingen.

Wenige Tage nach dem Vorfall kam es zu einem weiteren tödlichen Vorfall, als ein AKP-Parlamentarier im Wahlkampf in Suruc Ladenbesitzer begrüßen wollte und einer davon, flankiert von HDP-Anhängern, ihm unter Schmähungen den Handschlag verweigerte. Auch hier bezahlten am Ende vier Personen mit ihrem Leben.

In Yabanardi hat die politische Polarisierung eine Familie auseinanderbrechen lassen, Ehefrauen ihre Männer und Kindern ihre Väter genommen. Der vielleicht fundamentalste Effekt der vor allem für die Kinder traumatischen Erlebnisse, so Psychologe Paker, sei „deren Verlust des Sinnes für Sicherheit und Vertrauen. Das Fehlen der Fähigkeit zu vertrauen kann große Herausforderungen nach sich ziehen.“



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