Die Schweiz bereitet sich auf drohende Strommangellage vor

Noch droht in der Schweiz keine Strommangellage. Der Bundesrat trifft aber jetzt schon Vorkehrungen und hebelt für den Bau eines Reservekraftwerks das ordentliche Bewilligungsverfahren aus.
Noch droht in der Schweiz keine Strommangellage.
Strommasten in der Schweiz.Foto: Fabrice COFFRINI / AFP
Von 6. Oktober 2022

Jetzt soll es schnell gehen: Die Bauarbeiten für ein fossil betriebenes Reservekraftwerk in der Gemeinde Birr im Kanton Aargau haben begonnen. Der Schweizer Bundesrat hatte die dafür nötigen Verordnungen am 23. September verabschiedet und sich damit selbst ermächtigt, bestimmte Bundesgesetze vorübergehend aufzuheben. Zwingende Vorgaben wie Umweltverträglichkeitsprüfungen oder Baubewilligungspflichten können somit umgangen werden – eine nicht unumstrittene Entscheidung.

Verdecktes Notrecht in Kraft?

Die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ) behauptete in diesem Zusammenhang, der Bundesrat hätte eine „drohende Strommangellage ausgerufen“ und Gebrauch von einem „versteckten Notrecht“ gemacht, ohne dass es jemand bemerkt hätte. Laut der Zeitung bestehen derzeit „keinerlei Anzeichen“ für eine solche Mangellage. „Dass der Bundesrat nun dennoch verdecktes Notrecht in Kraft setzt, hat einen anderen Grund: Er will den Bau eines temporären Reservekraftwerks im aargauischen Birr beschleunigen. Zu diesem Zweck wollte er gewisse Gesetzesbestimmungen befristet außer Kraft setzen“, so der Vorwurf.

Das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) dementiert diese Darstellung. „Anders als in einem Bericht der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ) geschrieben, hat der Bundesrat bisher ‚keine drohende Strommangellage ausgerufen’“, heißt es auf der Internetseite der Regierung zur aktuellen Versorgungslage. Wie aber ist die Aushebung sämtlicher Bestimmungen für den Bau des neuen Reservekraftwerks zu begründen?

So heißt es in der provisorischen Fassung der „Verordnung über die Bereitstellung eines temporären Reservekraftwerks in Birr“:

Angesichts der unmittelbar drohenden schweren Mangellage bei der Stromversorgung [sind für die] Bereitstellung des Reservekraftwerks […] Bestimmungen nicht anwendbar.“

Zu den außer Kraft gesetzten Regelungen zählen diverse Artikel des Raumplanungsgesetzes, des Umweltschutzgesetzes, des Elektrizitätsgesetzes, des Arbeitsgesetzes und des Rohrleitungsgesetzes. Weiterhin seien – „soweit sie im Widerspruch zur rechtzeitigen Bereitstellung des Reservekraftwerks stehen“– kantonale Bestimmungen der Raumentwicklung, die Pflicht zur Erstellung von Parkfeldern, die Wärmenutzung bei Energieerzeugungsanlagen, Bewilligungspflichten, Aufgaben der Gemeinden, Luftreinhaltung, Bauzonen, Einwirkungen auf die Umwelt und des Gestaltungsplans „Grossacker–Grändel“ nicht anwendbar. Zudem könne „das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) […] Bestimmungen von geringer Tragweite für nicht anwendbar erklären.“

Weitreichende Einschränkungen bei Strommangellage befürchtet

Um den Eintritt einer Mangellage zu verhindern, könnten laut dem BWL Maßnahmen herangezogen werden, die eine bestimmte Vorlaufzeit benötigen, wie etwa der Bau eines Reservekraftwerks – und zwar auch „zu einem Zeitpunkt, an dem eine schwere Mangellage von den Experten zwar als möglich erachtet wird, deren Eintritt aber keineswegs als sicher gilt“.

Aufgrund der Dringlichkeit dieser Maßnahme sollten die Bauarbeiten spätestens ab Oktober 2022 beginnen. Das Kraftwerk, das mit Gas, Öl oder Wasserstoff betrieben werden kann, soll bereits im Februar 2023 einsatzbereit sein. Die rasche Baubewilligung für das Reservekraftwerk in Birr könne sich daher rechtlich auf das Landesversorgungsgesetz (LVG) stützen, so das Amt.

Eine drohende Strommangellage offiziell auszurufen, sei insofern umstritten, als dem Bundesrat zahlreiche zusätzliche Kompetenzen gewährt werden. In dem Fall sei die Landesregierung ermächtigt, weitreichende Einschränkungen zu beschließen. Als Beispiel hierfür nannte die NZZ „Verbote von Stromfressern, die nicht unbedingt nötig sind, etwa den Betrieb von Rolltreppen oder Schaufensterbeleuchtungen. Auch die Kontingentierung von Strom für die Wirtschaft wäre denkbar“, schrieb die Zeitung am 26. September.

Darüber hinaus würden zusätzliche Strafbestimmungen automatisch in Kraft treten. Wer beispielsweise „unwahre oder entstellende Behauptungen über geltende oder bevorstehende Maßnahmen“ verbreitet, um sich etwa einen wirtschaftlichen Vorteil zu verschaffen, müsse laut Bestimmung mit einer Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren rechnen.

Die Schweiz auf Energiesparkurs

Obschon nach derzeitigem Stand kein Strommangel herrscht, befindet sich die Schweiz bereits auf Sparkurs. So wird beispielsweise in zahlreichen Einkaufszentren in Luzern und Zug die Innenraumtemperatur auf 19 bis 20 Grad herabgesenkt. Den Kunden dürfte der Unterschied von zwei Grad wohl kaum auffallen. Aber was ist mit dem Verkaufspersonal?

Der Arbeitgeber dürfe nicht ohne Weiteres die Raumtemperatur senken, erklärte die größte Gewerkschaft der Schweiz Unia gegenüber der Internetzeitung „zentralplus“. „Bei allen Arbeitsbedingungen, soweit sie Gesundheitsschutz und Arbeitssicherheit betreffen, sind die Arbeitnehmenden zur Mitwirkung beizuziehen“. Es sei jedoch nicht klar geregelt, wie der Arbeitnehmer vorgehen kann, wenn er mit der Änderung der Arbeitsbedingung nicht einverstanden ist.

Klar sei aber, dass Arbeitnehmer nur für eine festgelegte Dauer bei Kälte arbeiten dürfen. Zudem haben sie das Recht auf bezahlte Pausen in wärmeren Bereichen und der Arbeitgeber muss für die warme Kleidung aufkommen, wenn die Arbeitssicherheit betroffen ist.

Noch gilt die Energieversorgung in der Schweiz als „größtenteils sichergestellt“. Doch derzeit würden zahlreiche Faktoren das „Risiko einer Strommangellage im Winter 2022/23 deutlich“ steigern, wie etwa die Reduktion der russischen Gasimporte nach Europa, die Abschaltung von fast der Hälfte der französischen Kernkraftwerke und die teilweise niedrigen Pegelstände der Schweizer Stauseen.



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