Die Schatten der Vergangenheit

Ungarn und seine Stasiverwicklungen Mit Kommentar von Ibolya Kiss
Titelbild
Ungarns Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány m ungarischen ParlamentFoto: Ferenc Isza / Getty Images
Von 9. März 2005

In Ungarn schlagen zur Zeit die Wogen er öffentlichen Erregung hoch, weil im Internet durch eine unabhängige Organisation überraschend lange Listen von ehemaligen Mitarbeitern der kommunistischen Stasibehörden veröffentlicht werden. Was in Deutschland die Gauck-Behörde sofort nach der Wende in Angriff nahm, wurde in Ungarn geflissentlich auf kleiner Flamme gekocht oder gar nicht erwähnt.

In den Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft wurden und werden (immer noch da, wo sie noch herrscht) ganze Völker zu Spitzeln ihrer selbst gemacht. Keine Familie, keine Gemeinschaft, kein Betrieb, keine Freundschaft kann sicher sein, dass nicht Einzelne oder viele Einzelne zu Spitzeldiensten gepresst oder verführt wurden. So mutig Ungarn voranging bei der Öffnung des Eisernen Vorhangs, so zögerlich deckt es seine eigene Geschichte auf.

Anfang Februar hat die Regierungspartei (MSZP) einen Gesetzentwurf beim Parlament eingereicht, es ging dabei um das sogenannte Agentengesetz. Die MSZP wollte wegen dieses Gesetzes die Verfassung ändern, aber damit war die Koalitionspartei (SZDSZ) nicht einverstanden. Ohne Stimmen aus der Oppositionspartei (Fidesz) könnte keine 2/3 Mehrheit zustande kommen um die Verfassung zu ändern. Diese wollte aber das Gesetz nur dann unterstützen, wenn im Parlament darüber auch entschieden wird, ob die Politiker ihre Agenten-Vergangenheiten aufdecken müssten und so zu einer Art Reinigungsprozess beitragen würden.

100 Agentennamen im Internet

Schließlich hat der Political Capitol, eine unabhängige Organisation, die politische Analyse betreibt, eine Liste im Internet veröffentlicht, auf der mehr als 1000 Agentennamen standen (die Liste ist auf der Webseite zu lesen auf Ungarisch: www.politicalcapitol.hu). Es geht dabei um die vor der Wende betriebenen Agenten- und Spionageabteilungen, die berüchtigten III/II- und III/III-Agenten. Die damaligen kommunistischen Agenten und Funktionäre sind jetzt nämlich hochrangige Politiker, Wirtschaftsleute und Bischöfe.

Der Political Capitol begründet und erklärt seinen Ausgangspunkt der Veröffentlichung:

„Wir haben überall die Quellen unserer Daten angegeben. Deren Veröffentlichung dient ausschließlich der wissenschaftlichen Erkenntnis und der Aufdeckung der Vergangenheit. Wir haben nur Daten aufgenommen, die schon früher in den Medien und in der Fachliteratur erschienen sind und wo die Umgebung der Erscheinung authentisch ist. In manchen Fällen haben wir direkt Signaturen aus dem Archiv der Staatssicherheitsdienst angegeben.“

Nach der Meinung des Political Capital „ist die ungarische Politik seit 15 Jahren eine Erklärung schuldig für die öffentliche Meinung. In diesen 15 Jahren hatten wir nicht die Möglichkeit deren Namen kennenzulernen, die mit dem Geheimdienst der Diktatur zusammengearbeitet haben. In den letzten Jahren sind einige Namen als politische Partie bekannt geworden, aber die Veröffentlichung der vollständigen Liste wurde von Politikern immer wieder verhindert“ – schreiben sie in ihrer Erklärung.

Verleumderisch und schändlich?

Auf dem ungarischen Figyelö-Net einem seriösen Internet-Portal, das sich mit Wirtschaft und Politik beschäftigt, kann man Eingeständnisse und Widersprüche deutlich erkennen.

Einige Personen, die auf der im Internet veröffentlichten Liste standen, haben eingestanden, daß sie eine Erklärung unterschrieben haben (zu Spitzeldiensten); einige haben es aber abgelehnt, daß ihre Namen mit der Sache in Verbindung gebracht worden sind.

Als „verleumderisch und schändlich“ bezeichnete Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány die gehässigen und unwürdigen politischen Anschuldigungen und die Tatsache, daß sie mit dem Schicksal einiger Menschen spielten. Der Ministerpräsident hat diese Erklärung am Montag (28. Feb.) nach der Veröffentlichung im Parlament geäußert als Reaktion auf die neueste Liste, die wieder neue 219 Namen enthält. Der Präsident hatte das frühere Kabinett beschuldigt, weil wieder neue Personen wegen der angeblichen Agenten-Vergangenheit verdächtigt werden. „Die früheren Regierungen haben ihre Verantwortungen nicht getragen, in dem sie die Vergangenheit korrekt, übersichtlich und rechtmäßig hätten aufdecken sollen, denn wenn sie das getan hätten, wäre es jetzt nicht so weit gekommen“ – sagte Ferenc Gyurcsány im Parlament.

Sie sind ab heute mein persönlicher Feind

Eine betroffene Journalistin, Katalin Szegvári, hatte aber zuvor gerade Gyurcsány angegriffen in ihrem Brief an den Präsidenten: „Und Sie – genau wie früher ein TV-Reporter an den amerikanischen Präsidenten gesagt hatte, als die USA Vietnam angegriffen haben – Sie sind ab heute mein persönlicher Feind.“ Nach Szegvári betäubt Gyurcsány „mit selbstvergessenen Äußerungen“ die Gesellschaft und schweigt darüber, daß sein Schwiegervater, Antal Apró, noch nicht auf den veröffentlichten Listen steht.

All diese Äußerungen zeigen, was für Affekte die Ende Februar veröffentlichte Agenten-Liste in dem heutigen Ungarn hervorgerufen hat und man kann unschwer erkennen, dass das Volk und auch die Politiker einen Punkt auf das i setzen wollen. Diese Sache sollte endlich beendet werden indem man alle Akten zugänglich und öffentlich macht. Einige sagen, dass das Volk das Recht hat zu erfahren, mit welcher moralischen Einstellung die an der Macht stehenden Politiker regieren und jeden Tag wichtige Entscheidungen treffen.

Kommentar von Ibolya Kiss

Es ist immer wieder erstaunlich für mich, daß die III/III-Listen und Agenten- und Spionengeschichten immer noch Themen sind in Ungarn. Ich bin in Budapest aufgewachsen, also in der Stadt, wo eigentlich die meisten Sachen passieren politisch und außenpolitisch gesehen. Ich lebe seit über 4 Jahren in Deutschland und erst jetzt kann ich das System in Ungarn realisieren, jetzt erst merke ich, daß der Kommunismus in meiner Heimat immer noch da ist. Die Situation erscheint mir paradox: einerseits ist die ungarische Wirtschaft westlich orientiert, man findet nur westliche Marken auf dem Markt; aber andererseits sind die Verwaltung, die Bürokratie und das ganze Gesundheitssystem immer noch sehr sozialistisch-kommunistisch geprägt.

Die Spuren des Kommunismus gehören immer noch zu dem Leben in Ungarn. Das ganze Schulsystem, die ganze Bürokratie – alles Zeichen einer Zeit, die eigentlich längst vergessen sein sollte… . Man würde denken, die Wende war doch vor 15 Jahren! Aber es ist immer noch da und die damaligen kommunistischen Politiker, Agenten, Spionen und Funktionäre sind immer noch aktiv.

Ich bin im Kommunismus aufgewachsen, erinnere mich deswegen natürlich deutlich an die Schulzeit, an die Uniformen, an die Aufgaben als Gruppenleiter in der Grundschule… Alles war systematisch und einheitlich, überall. Schon in meiner Kindheit habe ich ständig den Begriff III/III-Agent gehört, obwohl ich es nicht wußte, was das ist. Das Thema, das in Ungarn jetzt angereizt wurde geht schon seit der Wende um. Die Menschen wollen wissen, was die Politiker in der Vergangenheit getrieben haben.

In den Familien erzählt man immer so ein bißchen, was sie erleben mußten, daß sie immer darauf aufpassen sollten was sie sagen. Man durfte keine „schlechte Worte“ über irgendjemanden aus der KP sagen, sonst landete man im Gefängnis. Mein Großvater ist deswegen fast auch ins Gefängnis gekommen. Die Nachbarn haben immer große Ohren gehabt und haben immer die anderen beobachtet, es war kein schönes Leben.

Die Agenten und Spione haben nicht nur Telefone abgehört, Menschen belästigt und abgeschleppt, sondern die haben auch Menschen getötet. Das ist das, was die Menschen wissen wollen, sie wollen wissen, was auch die Politiker getan haben. Nach meiner Meinung sollte die ganze Korruption, die ganze alte Macht in Ungarn verjagt werden. Es sollten mehr Chancen da sein für jüngere begabte Menschen in der Politik. Ich denke, man sollte nicht nur sagen, daß die neue Generation da ist, sondern auch den Weg frei machen für sie.



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