Die Scharia: Islamisches Recht
Wenn die Menschen im Westen davon hören, dass ein Mann in Saudi-Arabien verurteilt wurde, weil er eine Frau in einem Einkaufszentrum öffentlich geküsst hat, reagieren sie oft geschockt und ungläubig.
Gesetze wie dieses, das jener Mann verletzte, werden „Scharia“ genannt und sind Regeln, die den Lebensstil aller Moslems bestimmen. Sie sind hauptsächlich aus dem Koran und der Sunna, einer Sammlung der Aussagen und Lehren des Propheten Mohammed, abgeleitet.
Das Gesetz der Scharia beeinflusst in irgendeiner Weise immer die Rechtsprechung in den meisten muslimischen Ländern. Allerdings kann die Auslegung dieser Gesetze in den einzelnen muslimischen Staaten variieren.
Eleanor Abdella Doumato, eine Gelehrte, die Geschlechterstudien und -geschichte in der Golfregion betreibt, erklärt, dass jedes Land seinen eigenen Philosophen hat, der den Islam auf seiner eigene Weise interpretiert. Deshalb ist das Rechtssystem in jeder Region sehr speziell.
In Ländern wie Nigeria ist die Regierung weltlich, aber es werden auch Scharia-Gerichte für Moslems eingerichtet, um alle familienrechtlichen Fälle, die Heirat, Scheidung, Sorgerecht und Erbrecht betreffen, verhandeln zu können.
Doumato vertritt die Auffassung, in Ägypten gebe es zwar keine Scharia-Gerichte mehr, das Land behaupte aber immer noch, die Scharia sei sein Gesetz.
Sie erklärte auch, Afghanistan fasse verschiedene Praktiken und lokale Bräuche der einzelnen Volksstämme in seinem Scharia-Gesetzbuch zusammen, die jedoch im Koran oder anderen religiösen Texten nicht vorgeschrieben sind und von denen viele Texte Frauen diskriminieren.
Willkürliche Anwendung der Scharia
Der umstrittenste Aspekt der Scharia sind die Strafgesetzbücher, die harte Strafen für bestimmte Delikte vorschreiben.
Im Fall des Mannes, der wegen Küssens in der Öffentlichkeit verurteilt wurde, berichtete die Agentur Associated Press, dass der Mann von der Religionspolizei verhaftet worden ist. Später verurteilte ihn das Gericht zu vier Monaten Gefängnis und 90 Peitschenhieben, womit es der saudi-arabischen Auslegung des islamischen Rechts folgte, das „unabhängigen Männern und Frauen verbietet sich zu vermischen.“
Doumato erklärt, wie das Scharia-Gerichtssystem in Saudi Arabien arbeitet: „Dort gibt es kein System der Rechtsprechung, wo Richter auf der Grundlage von Präzedenzfällen bestimmen könnten, welche Art von Verbrechen welche Art der Bestrafung erfordert. Man geht also so vor, wie es in der Vergangenheit getan wurde. Es ist wohl so etwas wie ein Spielraum für freie Entscheidungen, den jeder nutzen kann.“
Doumato meint, die Fälle würden von Richtern an verschiedenen Gerichten entschieden und die Strafe könnte „völlig willkürlich“ verhängt werden. „Sie hängt von der Einstellung des jeweiligen Richters ab, der zufällig zu diesem Zeitpunkt in dieser Sitzung den Fall einer bestimmten Person verhandelt.“
Ihrer Meinung nach würden oft die rassischen oder ethnischen Minderheiten und Ausländer am härtesten bestraft werden.
Im März wurde ein Libanese, der während einer muslimischen Pilgerfahrt nach Saudi-Arabien reiste, zum Tode verurteilt, weil er „Hexerei“ praktizierte. Er war TV-Moderator für einen libanesischen Fernsehsender und machte in einer Sendung „Beratungen und Vorhersagen für die Zukunft“, was zu seiner Verhaftung führte, wie Amnesty International berichtete.
Dr. Ali A. Mazrui, Direktor des Instituts für Globale Kulturstudien in Binghamton, New York, sagte, diese harten Strafen würden tatsächlich jedoch nicht oft verhängt.
In einem Interview mit dem offiziellen Auslandssender der USA, Voice of America, sagte Mazrui: „In der Realität der meisten muslimischen Länder werden diese traditionellen klassischen islamischen Strafen nicht ausgesprochen.“ Aber er wies auch darauf hin, dass sie dies lieber nicht öffentlich bekannt geben, da es sich dabei um ein politisch sensibles Thema handelt.
Dr. Mazrui sagte in diesem Interview: „Sie möchten einfach Situationen vermeiden, in denen zum Beispiel das Abhacken der Hand als Höchststrafe für Diebstahl und die Todesstrafe für Ehebruch vollstreckt wird. Sie möchten sie einfach nicht einsetzen.“
In Indonesien, wo die Mehrheit der Bevölkerung Moslems sind, ist die Regierung weltlich und in den Gerichten werden sowohl die Scharia als auch die Rechtsordnung der ehemaligen Kolonialmacht Niederlande angewandt.
In Indonesien gibt es relativ viel soziale Freiheit. Die Frauen sind zum Beispiel nicht verpflichtet, ihre Köpfe oder Gesichter zu bedecken, wie es in Saudi-Arabien der Fall ist. In den verschiedenen Bezirken der Hauptstadt Jakarta mit ihrem kosmopolitischen Flair gibt es Unterhaltungszentren und Bars. Dies kann sich jedoch wieder ändern.
In den letzten Jahren haben konservative Moslems in Indonesien auf weitere Einschränkungen im sozialen Verhalten gedrängt. Im Jahr 2008 wurde ein Anti-Pornografie-Gesetz verabschiedet, wobei Pornografie breit definiert wurde. Es verbot nicht jugendfreie Bücher und Filme, und auch öffentliches Küssen und das Tragen freizügiger Kleidung. Das Gesetz war zwar umstritten, wurde aber im März durch eine Entscheidung des Verfassungsgerichts bestätigt.
Im Jahr 2009 führte die Provinz Aceh ein strenges Scharia-Gesetz ein, das für Verbrechen wie das Trinken von Alkohol, Glücksspiel, Ehebruch und das Tragen enger Hosen harte Strafen vorsieht.
Doumato zufolge gibt es in Saudi-Arabien zwar aktive Reformbewegungen, doch fallen die wirklichen Veränderungen minimal aus.
„Es gibt einige Veränderungen, die das Leben für die Frauen ein wenig einfacher machen. Aber dann gibt es da noch die Frage, ob sie selbst dann, wenn das Rechtssystem sie akzeptiert, auch von der breiten Bevölkerung vollzogen werden.“ Dies sei laut Doumato aber schwer zu sagen.
Die Auswirkung der Scharia auf Nicht-Moslems
Wie die Scharia in einem islamischen Staat angewendet wird, wenn nicht alle Bürger Moslems sind, wirft auch schwierige Fragen auf. Im Sudan, wo Moslems unter der Scharia hart bestraft werden, fühlen sich auch Nicht-Moslems an sie gebunden.
Salih Mohammed, Professor am Institut für Soziale Studien in Den Haag, sagte im Interview mit Voice of America: „Wie unterscheidet man zwischen Moslems und Nicht-Moslems im Sudan? Wenn jemand von der Polizei erwischt wird und sagt, er wäre kein Moslem, ist es schwer zu überprüfen, ob er die Wahrheit sagt.“
Laut Salih wurden während der Amtszeit des ehemaligen sudanesischen Präsidenten Numairi über 250 südsudanesische Christen bestraft, indem ihre Hände amputiert wurden.
Er fügte hinzu, dass die Anwendung der Scharia auf das Rechtssystem zur Rückstufung von Nicht-Moslems auf den Status als Bürger zweiter Klasse führen kann.
„Sie spalten die Gesellschaft in zwei Teile: das Volk [der Koran-Gläubigen] und die Nicht-Moslems. Hier wird eine Hierarchie der Bürger – Christen, Juden und traditionelle Gläubige – erstellt und angewendet. Moslems haben unter der Scharia wahrscheinlich mehr Rechte als Nicht-Moslems. Somit gehen die Auswirkungen [der Scharia] über das Strafgesetzbuch hinaus.“
Originalartikel auf Englisch unter: Interpreting Sharia Law in Muslim States
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