Die Moral im Keller

Missbrauchsfall in Amstetten
Titelbild
(Parabol)-Spiegel der Gesellschaft? Übertragungswagen vor dem „Haus des Schreckens“ im österreichischen Amstetten. (Johannes Simon/Getty Images)
Von 7. Mai 2008

Fotoreporter sitzen auf Bäumen. Versprechen Unsummen für die ersten Fotos der Opfer. Sprechen Schulkinder an, was sie über den Missbrauchsfall wissen. Die Nachbarn wissen oft nicht einmal mehr die Anzahl der Interviews, die sie gegeben haben. Ein Fernsehteam reiht sich an das nächste. Dass die österreichische Stadt Amstetten im Ausnahmezustand ist, kann fast als Untertreibung bezeichnet werden. Worum es allen geht: Der Missbrauchsfall um den 73-jährigen Josef F., der seine eigene Tochter 24 Jahre lang in einem technisch genial gebauten Verlies im Keller des eigenen Hauses gefangen gehalten hatte. Mit ihr sieben Kinder zeugte (von denen eines bald nach der Geburt starb) und drei davon mit ihr ins Verlies sperrte. Sie sehen am 26. April 2008 zum ersten Mal in ihrem Leben Tageslicht.

Die „Bestie von Amstetten“, wie manche Medien F. bald bezeichnen, nimmt eine gesamte Stadt in Geiselhaft. Nein, eigentlich ein ganzes Land, wie mir bei einem Blick in die Nachrichten und angesichts der Dauerberichterstattung im Fernsehen rasch klar wird. Von Kenia bis Tasmanien, von Alaska bis Wladiwostok. Ein griffiger Name ist schnell gefunden: „Das Haus des Schreckens“, und ab geht die mediale Berichterstattungslawine. Und begräbt unter sich eine ganze Stadt. „Man bekommt hier automatisch einen Stempel aufgedrückt“, erzählt mir ein Bekannter aus Amstetten – der selbst in seiner Familie einen Missbrauchsfall miterleben musste. Ich nenne ihn der Einfachheit halber Thomas. Viele Erinnerungen kommen bei ihm hoch, aber was interessiert das den über Amstetten fegenden Medien-Mob.

Was zählt, ist jedes neue Detail vom wohl unfassbarsten Kriminalfall der Geschichte. Dafür werden schon mal 300 Euro für die Benutzung eines Balkons für Fotoaufnahmen bezahlt. Sensibilität im Umgang mit den Amstettenern und mit dem Fall an sich ist nicht gefragt. Doch andere anzuklagen, ist leicht, es selbst besser zu machen, nicht. Ich ertappe mich selbst dabei, in Wien zum ersten Mal eine österreichische Gratiszeitung bewusst mitzunehmen, die ausführlich über den Fall berichtet. Man muss ja schließlich mitreden können. Die Frage, die ein einzelner Demonstrant auf Schildern vor dem „Haus des Schreckens“ in der 23.000-Einwohner-Stadt stellt – „Warum hat niemand etwas bemerkt?“ – beschäftigt CNN und Reuters ebenso wie die „Katastrophen-Touristen“, die es in Scharen anzieht. Amstetten liegt an der A1, einer vielbefahrenen Autobahn, von der es auch nach Deutschland nicht weit ist. Von dort kommt auch der junge Mann mit den Schildern.

Es ist aber auch zu unglaublich, zu unfassbar, dass eine ganze Stadt nichts mitbekommen hat vom Martyrium der Tochter Andrea F. Nicht einmal die Mutter. Doch für Menschen, die Josef F. kennen, ist das durchaus vorstellbar. „Er soll wirklich sehr herrisch gewesen sein. So in der Richtung, was mein Revier ist, da hat keiner was zu suchen. Da darf dann auch keiner hin“, berichtet mir eine Bekannte aus Amstetten. Und von den Nachbarn und Untermietern, die Josef F. im Haus hatte, in dem er sich anscheinend völlig sicher fühlte, konnte man ob der perfekten Abschirmung des Verlieses im Keller wenig erwarten. Wer rechnet auch damit, dass dort Menschen eingesperrt gewesen sein könnten? Ein ehemaliger Untermieter von Josef F. berichtet Medien gegenüber zwar von Klopfgeräuschen, der Polizei gegenüber machte er diese Aussage jedoch nicht.

Doch zurück zu meinem Bekannten Thomas. Er bittet mich, bei meinem Bericht auch an die Menschen zu denken, die in Amstetten leben. „Die Leute nimmt das Geschehene wirklich mit“, sagt er – „in Amstetten ist eine Welt zusammengebrochen“. Was er nicht versteht, ist der Mangel an Mitgefühl, der nicht nur der Familie F. entgegengebracht wird, sondern auch dem Ort Amstetten. „Es steht rein die Sensationslust im Mittelpunkt, Mitgefühl spürt man von den Medien nicht“.

Als ich am Samstag im Kabarett von Dieter Nuhr sitze, der gerade in Wien gastiert, muss ich an seine Worte denken. Gleich zu Beginn des Auftritts – Amstetten. Nicht ganz unter der Gürtellinie, die Ansage des Quatsch-Comedy-Club-Stars, doch man denkt sich: Muss das sein? „Sich lustig machen ist nicht lustig“, meint Thomas. Eine druckreife Ohrfeige für alle, die sich dem Thema wegen ein paar Lachern nähern. Aber lachen muss doch erlaubt sein – oder gibt es da vielleicht doch Grenzen? Oder ist es ein legitimer Versuch, sich vor dem ganzen Wahnsinn zu „retten“?

Egal. Auf dem Heimweg vom Kabarett kommt mir ständig eine Textzeile der Band „Rosenstolz“ in den Kopf: „Der größte Trick, den der Teufel je hatte, war, dass er die Welt hat glauben machen, dass es ihn nie gab“. Na klar, Agent Kujan, richtig erkannt – eigentlich kommt der Spruch natürlich aus dem Film „Die üblichen Verdächtigen“. Grandioser Film, grandioser Kevin Spacey. Doch das tut hier nichts zur Sache. Ich meine, dass der Film und Kevin Spacey grandios waren. Den Diskurs über das Böse in der Welt zu führen jedoch nicht. Ist anscheinend keine sehr angesagte Diskussion. „Werte sind etwas, was sich völlig individualisiert hat“, resigniert ein Kollege von mir. Aus diesem Grund ist die Diskussion über sie und den moralischen Gesamtzustand einer Gesellschaft, die das Leiden anderer Großteils nur noch zur Befriedigung der Sensationsgier oder, um sich besser fühlen zu können als jemand anderer, wahrnimmt, keine ernsthaft und öffentlich geführte. Wenn Christoph Feurstein recht behält mit seiner Prognose, dass uns noch einige ähnliche Fälle wie die des Herrn F. bevorstehen, vielleicht schneller, als manchen von uns lieb ist.

Text erschienen in Epoch Times Deutschland Nr. 19 (7.Mai – 13. Mai)



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion